Berlin: (hib/STO) Die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagene Änderung des Bundeswahlrechts noch vor der kommenden Bundestagswahl am 27. September ist unter Experten umstritten. Während sich in einer Anhörung des Innenausschusses am Montagnachmittag die geladenen Sachverständigen mehrheitlich für eine Änderung noch vor dem Wahltag aussprachen, warb Professor Heinrich Lang von der Universität Rostock für eine umfassende Wahlrechtsreform "mit ruhiger Hand".
Mit dem Gesetzentwurf der Grünen-Fraktion ( 16/11885) soll ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten negativen Stimmgewicht (Az: 2 BvC 1/07, 2 BvC 707) vom Juli 2008 umgesetzt werden. Die Karlsruher Richter hatten festgestellt, dass das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung verstößt, weil ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen könne. Dem Gesetzgeber räumten sie für eine Neuregelung eine Frist bis zum 30. Juni 2011 ein.
Nach den Vorstellungen der Grünen-Abgeordneten soll die Verfassungswidrigkeit dadurch beseitigt werden, dass die Anrechnung der Direktmandate auf das Zweitstimmenergebnis bereits auf Bundesebene und nicht wie nach bislang geltendem Recht auf Länderebene erfolgt. Überhangmandate entstünden dann "in der Regel nicht mehr", heißt es in der Vorlage. Überhangmandate erhalten Parteien, wenn sie in einem Bundesland mehr Direktmandate erringen, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen.
Lang warnte in der Anhörung, nicht nur verfassungsrechtliche Risiken der Grünen-Vorlage sprächen gegen eine schnelle Lösung. Auch das Bundesverfassungsgericht habe vor übereilten Korrekturen gewarnt. Danach lasse sich der Effekt des negativen Stimmgewichts "nicht isoliert beheben", sondern erfordere grundlegende Vorarbeiten. Der frühere Bundeswahlleiter Johann Hahlen sagte, nach seiner Erfahrung müsste der Gesetzgeber den Wahlorganen etwa bis Mitte Juni Klarheit über eine etwaige Neuregelung geben. Es gebe aber keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit für eine solche Neuregelung bis zum 27. September. Der Gesetzgeber habe daher zu prüfen, ob er den "Wahlfehler des negativen Stimmgewichts" noch beseitige oder in der kommenden Wahlperiode eine "sorgfältige und große Wahlrechtsreform" vorlege.
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz mahnte, ein Bundestag, der gleiches und unmittelbares Wahlrecht zu verwirklichen habe, müsse dies für jede Wahlperiode machen. Andernfalls stelle er sich über das Grundgesetz. Mahrenholz warf zugleich die Frage auf, wie das Parlament hier "ein Stillhalten gegenüber den Wählern verantworten" wolle. Nach dem gegenwärtigen Wahlrecht dürfe nicht gewählt werden. Der Berliner Staatsrechtler Professor Hans Meyer argumentierte, es müsse verhindert werden, dass nach einem Wahlrecht gewählt werde, bei dem eine Stimme für eine Partei gegen diese Partei gewertet werden könne. Dabei sei der vom Verfassungsgericht festgestellte Verstoß "relativ leicht zu beseitigen".
Professor Friedrich Pukelsheim vom Institut für Mathematik der Universität Augsburg argumentierte, nur bei einer Umsetzung des Gesetzentwurfs könnten die Wähler so wählen, wie sie sich das vorher vorstellen. Auch Wilko Zicht von der Internetplattform "wahlrecht.de" befand, dass der Grünen-Entwurf "trotz gewisser Schwächen im Detail" so übernommen werden könne.
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