Vom Dach des Gemeindehauses an der Bernauer Straße in Berlin haben die Besucher einen guten Überblick. Gegenüberm, auf der anderen Seite zieht sich entlang der Straße eine breite Schneise durch das Stadtviertel. Auf dem unwirtlichen Gelände wuchern Sträuchern, einhundert Meter weiter entstehen schicke Neubauten. Direkt gegenüber dem Gemeindehaus aber ist der Boden fein säuberlich geharkt, asphaltierte Wegen durchziehen den Sand. Zur Straße hin wird das Gelände von einer rund 70 Meter langen, grauen, knapp drei Meter hohen Mauer begrenzt. Es ist der letzte authentische Rest der weltberühmten Berliner Mauer, deren Fall vor beinahe 20 Jahren das Ende des Kalten Krieges besiegelte. Nur hier, zwischen den Berliner Bezirken Mitte und Wedding, kann jenes Bauwerk noch besichtigt werden, das 40 Jahre lang nicht nur Freunde und Familien in Berlin und Deutschland trennte, sondern ein Symbol war für die Teilung der Welt in zwei Machtblöcke.
Dass dieses Stück Mauer mit dem so genannten Todesstreifen als Gedenkstätte erhalten blieb, ist das Verdienst eines Mannes: Manfred Fischer, Pfarrer der Weddinger Versöhnungsgemeinde, hat bereits 1990, kurz nach der Wende dafür gekämpft, dass die Erinnerung an die Teilung nicht ausgelöscht wird. Als nach dem Mauerfall Anwohner wie Politiker das scheußliche Bauwerk so schnell wie möglich auf der Müllhalde der Geschichte sehen wollten, trieb Fischer bereits die Sorge um das kollektive Gedächtnis um. "Wir müssen ein Stück von diesem Monstrum erhalten", habe er damals gedacht, erzählt er, "sonst wird es bald keiner mehr glauben."
Manfred Fischer ist ein vor Energie sprühender Mann. Er hat schon früh Zeitzeugen in seinem Gemeinde eingeladen, das Gemeindehaus zur Gedenkstätte umfunktioniert. Wenn er als geschäftsführender Vorstand der "Gedenkstätte Berliner Mauer" im Januar sein Amt aufgeben wird, kann er das mit Zufriedenheit tun. Denn die Gedenkstätte wird gemeinsam mit dem Notaufnahmelager Marienfelde in West-Berlin in die "Stiftung Berliner Mauer" überführt, die zu gleichen Teilen vom Land Berlin und vom Bund finanziert wird. Bis 2011 wird an der Bernauer Straße ein Dokumentationszentrum gebaut, Spuren der Vergangenheit werden gesichert, Standorte ehemaliger Wachtürme und Fluchttunnel gekennzeichnet, Opfer von Fluchtversuchen erhalten Gedenktafeln. Ein Ort der Erinnerung wird entstehen.
Die Gründung der Stiftung Berliner Mauer ist ein wichtiger Schritt zur Realisierung des Konzeptes des Berliner Senats und der Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Denn die Erinnerung an den Grenzwall gehört zur "historischen Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur", die im Gedenkstättenkonzept verankert ist. Diese gibt den Rahmen vor, wie die Bundesrepublik geschichtspolitisch mit den beiden deutschen Diktaturen umgeht. Das Konzept war lange kontrovers diskutiert worden, vor allem die Debatte um die Frage der Verteilung der Mittel hat gespalten. Nun steht fest: Zwei Drittel der Bundesmittel sollen für die Aufarbeitung der NS-Zeit, ein Drittel für das Gedenken an die kommunistische Diktatur aufgewendet werden.
Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, hält diese Gewichtung für nicht richtig. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit habe einen großen zeitlichen Vorlauf. "Hingegen wissen wir immer noch sehr wenig über die Verfolgungsorte in der DDR", klagt er. Knabe, der die Aufarbeitung in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen leitet, sieht bei der Aufklärung über die DDR-Diktatur bisher starke Defizite. Die "Delegitimierung" der kommunistischen Diktatur als menschenverachtendes System sei nicht gelungen., findelt Knabe. Er verweist auf Umfragen unter ostdeutschen Jugendlichen, nach denen eine Mehrheit die DDR nicht für eine Diktatur hält und die Staatssicherheit für einen Geheimdienst wie jeden anderen.
Knabe betont, dass zahlreiche ehemalige DDR-Gefängnisse von Verfall oder Abriss bedroht seien. So stünden das berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck oder das Stasi-Gefängnis in Erfurt seit Jahren leer. Das ehemalige Gefängnis in Berlin-Rummelsburg sei gerade in Eigentumswohnungen umgewandelt worden. Der letzte DDR-Grenzbahnhof in Probstzella solle in Kürze abgerissen werde. Es fehle an einem Konzept, wie diese authentischen Erinnerungsorte erhalten werden könnten. Ungelöst ist laut Knabe auch die Frage, wie man die Erfahrung der kommunistischen Diktatur in den alten Ländern vermitteln könne. Außer einem privaten DDR-Museum in Pforzheim gebe es dort keine Aufklärungsorte. "Hier muss unbedingt etwas geschehen", betont der Historiker. Das Konzept sieht Bundesförderung nur für authentische Orte vor.
Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitgeschichte hingegen begrüßt das Konzept als "Grundlage, auf der es sich arbeiten lässt". Die politischen Konflikte seien im beigelegt, die Unterschiede zwischen beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts seien betont. "Es ist stärker akzentuiert, dass jede Diktatur auf ihre ganz eigene Weise funktioniert hat, vor allem, was die Dimension der Verbrechen angeht", erläutert er. Auch die gesamtstaatliche Verantwortung des Gedenkens werde betont, zum Beispiel durch die institutionelle Förderung für die KZ-Gedenkstätten Dachau, Flossenbürg, Bergen-Belsen und Neuengamme. Zarusky kennt Flossenbürg und Dachau seit den 1980er Jahren, die personelle Ausstattung sei stets "recht ärmlich" gewesen. Aufarbeitungsbedarf sieht er generell - in Bezug auf Nationalsozialismus wie auf die DDR-Zeit. Vergleiche mit der Judenverfolgung zeigten, dass von einer umfassenden Aufarbeitung der NS-Verbrechen keine Rede sein könne: "Damit sind wir lange noch nicht fertig."
Auch Pfarrer Manfred Fischer von der Mauergedenkstätte kann mit dem Bundeskonzept "leben". Es fördere das Erinnern an die doppelte Diktaturerfahrung, ohne die Einzigartigkeit des Holocaust infrage zu stellen. Das Gedenkstättenkonzept könne man "in seiner geschichtspolitischen Bedeutung nicht hoch genug einschätzen", sagt Fischer sogar. Von Januar an wird er nur noch Beirat in der "Stiftung Berliner Mauer" sein - und Vereinsvorstand. Dann kann er sich noch intensiver den spirituellen Aspekten des Gedenkortes widmen. Dazu gehören Andachten an die Maueropfer in der Kapelle, wo einst die vom DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gesprengte Versöhnungskirche stand. Mehr Zeit wird Manfred Fischer dann auch für seine Versöhnungsgemeinde haben. Ihr Name ist viel älter als die Berliner Mauer.