UKRAINE
Die Wirtschaft steckt in einer schweren Krise. Doch die Politik ist mit sich selbst beschäftigt
Der Präsident wirft der Premierministerin Landesverrat vor. Sie beschimpft ihn als geisteskrank. Der Präsident löst das Parlament auf, setzt dann aber die Auflösung aus. Die Parlamentarier setzen ihren Parlamentsvorsitzenden ab, wollen sich aber nicht auf einen Nachfolger einigen. Daraufhin sind sie nicht mehr beschlussfähig, weil es niemanden gibt, der die Parlamentsbeschlüsse unterschreiben könnte. In der Ukraine herrscht wieder eine politische Krise.
Nicht zum ersten Mal seit dem Sieg der demokratischen "orangen" Revolution von 2004 ist eine Regierungskoalition an den Ränken ihrer Mitglieder zerbrochen - es drohen die dritten vorzeitigen Parlamentswahlen in drei Jahren. Anfang September stimmten die Abgeordneten der BjuT-Fraktion von Premierministerin Julia Timoschenko gemeinsam mit der oppositionellen "Partei der Regionen" für mehrere Gesetze, die Präsident Viktor Juschtschenkos Machtbefugnisse stark beschnitten. Daraufhin kündigte dessen Fraktion in der Obersten Rada "Unsere Ukraine - Selbstverteidigung des Volkes" die "orange" Koalition mit "BjuT". Seitdem herrscht heftigstes Gezeter in und um die Rada. Die Volksdeputierten beschimpfen oder prügeln sich oder schütten zumindest Mehl in Sprechanlagen, um Debatten zu verhindern. Nichts Erstaunliches in der Ukraine. Erstaunlich ist eher, dass das geschieht, während die Wirtschaft des Landes mit Rekordgeschwindigkeit in die Wirtschaftskrise rutscht. Der ukrainische Aktienindex stürzte von Januar bis Ende Oktober um über 80 Prozent ab, die Inflationsrate liegt bei über 23 Prozent, das Wachstum bei minus 2,1 Prozent. Die Auslandsverschuldung stieg auf über 100 Milliarden Dollar. Staatsbankrott droht, die großen Stahlwerke stehen still, die Kumpel im ost- ukrainischen Kohlebecken Donbass warten inzwischen auf fünf Monatsgehälter. Ist die Position der Staatsmacht angesichts der Finanzkrise angemessen und verantwortungsvoll? Nur noch 2 Prozent der angesprochenen Finanzexperten antworteten bei einer Umfrage im Oktober auf diese Frage mit Ja.
Jetzt beschwören alle Entschlossenheit. "Wir sollten ein Moratorium für alle politischen Konfrontationen ausrufen", erklärt Oppositionsführer Viktor Janukowitsch. "Es ist unsere Pflicht unser Volk vor der totalen wirtschaftlichen und sozialen wirtschaftlichen Katastrophe zu schützen." Aber tatsächlich tun die politischen Instanzen wenig, um ihre Handlungsfähigkeit wieder herzustellen. Der Präsident hat schon im September Neuwahlen zur Rada für Anfang Dezember ausgerufen, diese aber dann wieder aufgeschoben. Die Rada-Fraktionen selbst können sich seit Mitte Oktober weder auf eine neue Koalition, noch seit Mitte November auf einen neuen Parlamentssprecher einigen. "Jeder einzelne Abgeordnete ist ein vernünftiger Mensch", sagt Boris Bespalyj, ehemaliger Volksdeputierter von "Unsere Ukraine", der 2007 sein Mandat aus Protest gegen die Dauerintrigen abgab. "Aber alle zusammen benehmen sie wie im Kindergarten." Auch Bundestagsabgeordnete konnten sich im Oktober bei einem Besuch der Deutsch-Ukrainischen Parlamentariergruppe in Kiew ein Bild von der Lage machen. Die Vorsitzende der Gruppe, Bärbel Kofler (SPD), betont, die Unabhängigkeit der Parlamentarier von der Regierung und eine klare rechtliche Verankerung der Rechte und Pflichten des Parlaments sei eine wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. "Diese grundsätzlichen Standpunkte hat unsere Parlamentariergruppe auch an verschiedenen Stellen artikuliert und vertreten." Besonders wichtig sei aber zunächst, betont Kofler, die verfassungsrechtliche Situation zu klären, um eine konstante Arbeit des Parlaments und der Regierung zu gewährleisten.
Ihr Kollege, der FDP-Abgeordnete Harald Leibrecht, führt die bisweilen mangelnde Bereitschaft der Parlamentarier, das eigene Wohl dem des Landes unterzuordnen, auch auf negative Erfahrungen während des Kalten Krieges zurück. "Demokratie", sagt Leibrecht, "ist mehr als freie Wahlen und ein Parlament mit mehreren Parteien." Sie sei eine Haltung des Geistes, die man nicht in die Wiege gelegt bekomme, sondern die man erst lernen müsse. "Auch in Deutschland haben wir diese Erfahrung leider machen müssen", so Leibrecht.
Hinter den Kulissen verhandeln Viktor Janukowitsch und Julia Timoschenko inzwischen über eine neue Koalition. Doch die Stabilität auch dieses Bündnisses ist fraglich. Weniger, weil Timoschenko erklärt hat, sie werde eher zum Mars fliegen, als mit Janukowitsch zu koalieren. Eher weil Timoschenko wie Janukowitsch auf die Präsidentschaftswahlen Anfang 2010 schielen. Nach den Meinungsumfragen haben Timoschenko (20 Prozent) und Janukowitsch (17 Prozent) die besten Chancen, den unbeliebten Viktor Juschtschenko (3 Prozent) im höchsten Staatsamt zu beerben.
Während Oppositions- und Regierungsfraktionen im Parlament die Krise bisher an geheimen Verhandlungstischen ausgesessen haben, nutzt auch der gelernte Ökonom Juschtschenko die allgemeine wirtschaftspolitische Ratlosigkeit nicht, ökonomische Führungsqualitäten zu demonstrieren. Er hat sich gerade zum Parteiführer von "Unsere Ukraine" wählen lassen und flirtet offenbar mit dem Gedanken, sein Restgefolge persönlich in die nächsten vorgezogenen Parlamentswahlen zu führen. "Man hat nicht das Gefühl, dass unser Land von einem Finanzprofi geführt wird", räsoniert sein ehemaliger Anhänger Bespalyj.
Die politische Zukunft der Ukraine bleibt daher völlig ungewiss. Aber seinen Spitzenplatz als die am meisten von der Weltwirtschaftskrise gebeutelte Volkswirtschaft wird das Land wohl nicht so schnell wieder abgeben.