DDR
Verbotene Literatur im SED-Staat und ihre Verbreitung an der Zensur vorbei
Viele Bücher aus dem Westen galten im "Leseland DDR", wie sich das realsozialistische Deutschland gerne nannte, als toxisches Material. Ziel der Herrschenden war, das Volk vor diesem Gift zu schützen. Leser, die sich die freie Orientierung nicht austreiben lassen wollten, führten einen stetigen Kampf gegen die Zensur. Davon handelt das Buch "Heimliche Leser in der DDR". Es schildert, auf welchen Wegen sich die Menschen Lesefutter besorgten und wie die Staatsorgane versuchten, sie daran zu hindern. Die 42 Beiträge, die die Herausgeber Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag zusammengestellt haben, gehen auf eine Tagung aus dem Jahr 2007 zurück, die sich der "Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur", so der Untertitel, widmete.
Dabei stand offenbar der Masse Lesehungrigen der Sinn nicht nach Dissidentenliteratur, wie zum Beispiel den Werken von Alexander Solschenizyn. Vielmehr zog es sie zu trivialen Stoffen hin, wie der Münchner Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen mit Hilfe von Befragungen ehemaliger DDR-Bürger feststellte. Die Liebhaber von schöngeistigen Werken bildeten danach eine Minderheit. Bevor die Neugier gestillt werden konnte, galt es die Maschen des Zolls zu überwinden. Darüber berichtet Jörn Michael Goll. Danach war die Einfuhr von "Hetzliteratur", wie zum Beispiel die Publikationen von Landsmannschaften und unliebsame politische Bücher genannt wurden, schlicht verboten. Nach Vorgaben, die bereits in den 1960er Jahren erarbeitet wurden, hatten die Mitarbeiter der Postzollämter vorzugehen. Bisweilen konnten auch diese handverlesenen Kontrolleure der Versuchung nicht widerstehen und warfen heimlich lesende Blick auf das verbotene Gut. Andere Möglichkeiten an Westliteratur zu kommen, bestand im eifrig praktizierten Bücherklau während der Leipziger Messe, aus Mitbringseln von Großeltern, die als Rentner das Gewünschte in die Kleidung eingenäht schmuggeln konnten. Auch hatten Studenten bisweilen Zugang zum "Giftschrank" in der Universitätsbibliothek. Doch waren die Regeln für den Zugang bewusst vage formuliert und führten zur Rechtsunsicherheit der Bibliothekare. Auch die Arbeit mit Akten und Dokumenten wurde ausgebremst. Archivpraxis war weitgehend Verhinderungspraxis.
Wie gefährlich das Lesen des Unbotsamen werden konnte, zeigt der Fall Baldur Haase. In seinem anschaulichen Beitrag "Verführt durch Schmutz und Schund" schildert er eigene Erfahrungen. Schon 1957 war der junge Offset-Drucker ins Visier der Stasi geraten. Dazu genügte es, dass er in brieflichem Austausch mit einem westdeutschen Verlag stand. Später schickte ihm ein westdeutscher Freund Georg Orwells bekannten Roman "1984" über den Überwachungsstaat. Die Parallelen zur realsozialistischen Erfahrungswelt lagen auf der Hand. In Briefen teilte Haase dazu seine Gedanken mit und verlieh das Werk an gute Bekannte. Haase büßte seinen Hang zum falschen Buch mit drei Jahren Haft: wegen staatsfeindlicher Hetze. Noch riskanter als heimliches Lesen war dagegen die unerlaubte Herausgabe von Zeitschriften. Insbesondere in der Literaturszene des Berliner Prenzlauer Berg erschienen solche Publikationen in kleinen Auflagen.
Daneben konnten sich Literaturinteressierte über in der DDR unzugängliche Bücher auch durch Radiosendungen informieren, die in die DDR hineinstrahlten. In Beiträgen des RIAS war entsprechende Literatur regelmäßig vertreten und wurde ausgiebig in Rezensionen zitiert, um auf diese Weise die Zensur zu unterlaufen, wie der ehemalige Literaturredakteur des Senders, Hans-Georg Soldat, schreibt.
Zu Wort kommen in dem Band allerdings nicht nur jene Menschen, die sich der Zensur nicht widerstandslos fügen wollten, sondern auch jene, die die staatliche Kontrolle ausübten. So bieten die Herausgeber und ihre Autoren aufschlussreiche Einblicke in einen wichtigen Bereich der DDR-Alltagskultur.
Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Ver-breitung unerlaubter Literatur.
Ch. Links Verlag; Berlin 2008; 406 S.; 29,90 ¤