Sowjetunion
Karl Schlögel und Orlando Figes über die Gewaltherrschaft Josef Stalins
Ddie extremen Erfahrungen von Terror und Traum in einer Geschichte der Gleichzeitigkeit" zusammenbringen will der Russland-Kenner Karl Schlögel in seiner Monografie. In seinem Vorwort gesteht der Historiker, er habe nie zuvor die "Unangemessenheit der Sprache" stärker empfunden als "bei der Vergegenwärtigung der monströsen Ereignisse dieser Zeit". Im Kern geht es um das Moskau des Jahres 1937.
Schlögel moniert, dass die geschichtliche Katastrophe und der Massenmord in der Sowjetunion während der stalinistischen Repressionen die Deutschen nicht sonderlich interessiert habe. Den menschlichen Tragödien wurde "nie jene Aufmerksamkeit und Anteilnahme zuteil, die man von einer Öffentlichkeit, die sich dem Horror der nationalsozialistischen Verbrechen ausgesetzt hatte, erwarten durfte. Es herrschte eine auffällige Asymmetrie. (...) Man hatte Primo Levi gelesen, aber nicht Warlam Schalamow." Bemerkenswert ist die Klage vor allem deshalb, weil sie von einem deutschen Historiker stammt, der sich selbst erst jetzt mit diesem Thema beschäftigt. Unklar bleibt auch, warum den Deutschen die Konzentrationslager Dachau und Auschwitz nicht näher stehen sollten als Workuta oder Kolyma, zumal nicht einmal jeder Russe mit diesen Namen etwas anzufangen weiß.
Schlögel weist zu Recht darauf hin, dass nicht der Mangel an Quellen die Herausforderung für seine Arbeit darstellte, sondern ihre überwältigende Fülle und ihr unausgeschöpfter Reichtum. Da die sowjetischen Archive noch vor dem Zerfall der UdSSR der Forschung geöffnet wurden, konnten bislang Dutzende hervorragende Studien über das Terrorsystem Stalins erscheinen. Vor allem die Quelleneditionen ermöglichen eine Rekonstruktion der internen Entscheidungsfindungsprozesse der Partei- und Staatsführung. Hinzukommen empfehlenswerte Arbeiten über die verschiedenen Aspekte der Politik und das Gesellschaftsleben während der stalinistischen Herrschaft. Neu ist jedoch Schlögels Ansatz, Zeit, Raum und Handlung zusammenzubringen. Sie ist der entscheidende Schlüssel der nicht nur hilft, die Geschichte der Sowjetunion zu verstehen, sondern auch deren Zerfall 1991 erklärt. Deshalb handelt es sich bei diesem Buch um ein epochales Werk. In Russland gibt es eine vergleichbare Arbeit bis heute nicht.
In 40 Kapiteln entwirft der Wissenschaftler ein faszinierendes dreidimensionales Panorama des "sowjetischen Raums" und des Alltags in den 1930er Jahren. Dabei geht er bis an die Grenzen der erzählbaren Geschichte. Darin bringt er dem Leser die Träume, die Apathie und die Aggressionen des "durchgedrehten", von Massenmorden, Repressionen und vom täglichen Kampf ums nackte Überleben erschöpften Volkes nahe. 1937 feierte das Regime den 20. Jahrestag der Oktober-Revolution. Im gleichen Jahr wurden circa 700.000 Menschen ermordet und rund 1,3 Millionen in Lager gesperrt.
Schlögel beginnt seine Erzählung mit der Beschreibung der größten Land-Stadt-Wanderung der Weltgeschichte: zwischen 1926 und 1939 flohen 26 Millionen Bauern vom Land in die Stadt. Die Volkszählung hatte ergeben, dass von den 162 Millionen Einwohnern rund 116 Millionen in Dörfern lebten. Die Verdoppelung der städtischen Bevölkerung von 26 auf 51,9 Millionen zwischen 1926 und 1937 ging vor allem auf die Landflucht der Bauern zurück. Allein nach Moskau kamen so zwei Millionen Menschen. Sie waren vom Hunger getrieben. Denn nach der Kollektivierung der Landwirtschaft konnte die Sowjetunion ihre Bevölkerung nicht mehr ernähren. Am Ende des Buches steht, warum 1937 mit Massenrepressionen enden "musste".
Der tatsächliche Verlauf der Industrialisierung und die Auswirkungen der Verstaatlichung der Landwirtschaft standen in krassem Widerspruch zu dem propagierten glücklichen Leben im Sozialismus. Nichts lief so, wie es die Machthaber gerne hatten. Von daher sahen sie sich gezwungen, den Menschen Sündenböcke für die Hungersnöte und den Warenmangel zu präsentieren. 1937 initiierte der Kreml drei Schauprozesse: Obwohl die Angeklagten zur Elite des Regimes gehört hatten, gaben sie ihre "Vergehen" zu und wurden verurteilt.
Das schwache und auf Gewalt basierende System machte Alexander Puschkin zu seiner eigenen Sache, um mit seiner Autorität das sowjetische Reich zu festigen. Das Volk sollte bei dem großen Schriftsteller Trost suchen, nicht in der Religion oder anderen Ideologien. Obwohl die Ansicht weit verbreitet ist, dass das Stalin'sche Regime die ganze Sowjetunion fest im Griff hatte, hatte der Kreml das Land nicht unter Kontrolle. Tatsächlich hatten Notstandsdenken und der Eindruck einer ohnmächtigen Macht dominiert, notiert Schlögel. Die Vertreter des herrschenden Systems waren sich nur zu bewusst, dass sie über keine Legitimation verfügten. Deshalb mussten sie sich auf Notstandsverordnungen beschränken und ständig improvisieren. In diesem Kontext steht auch das Massenterrorjahr 1937.
Die neuesten Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich das stalinistische System quasi gezwungen sah, durch diese Repressionen Zeit für das eigene Überleben zu gewinnen. Deshalb wurden Schauprozesse inszeniert, um "glaubwürdig" Feinde präsentieren zu können, die für Sabotageaktionen in der Industrie verantwortlich gemacht werden konnten. Auf diese Weise brachte Stalins Führungskreis langsam eine neue, junge Nomenklatura hervor, die half, die Machtbasis des sozialistischen Systems auch künftig zu sichern.
Allerdings war die zuverlässige Nomenklatura ein zu schmales Fundament, um die Herrschaft der KPdSU dauerhaft zu sichern. Dazu war eine breitere Legitimation erforderlich, die entsprechend den Grundsätzen der Verfassung über "allgemeine, freie, geheime Wahlen" hergestellt werden musste. Als die Vollversammlung des Zentralkomitees über freie Wahlen debattieret, verstummten die Delegierten plötzlich. Sie wussten nur zu gut Bescheid über die Unzufriedenheit im Land, die sich in Stimmen gegen das sowjetische Paradies äußern würde. Die kommunistische Partei verfügte allenfalls über die zwei Millionen Stimmen der Parteimitglieder. Die regionalen Parteiführer machten dem Zentrum klar, dass anti-sowjetische Elemente die Wahlen "missbrauchen" würden.
An dieser Stelle wird deutlich, warum 1937 zum Terrorjahr wurde: Josef Stalin wollte den Ausgang der Wahlen auf keinen Fall dem Zufall überlassen. Deshalb beschloss er, potenzielle Gegner des Regimes - aus der Verbannung zurückgekehrte Kulaken und ehemalige Mitglieder verschiedener Parteien - erschießen zu lassen oder in Konzentrations- und Arbeitslager zu verbannen. Die Listen mit den Zahlen der für Erschießung oder Verbannung Bestimmten wurden von Moskau aus je nach Bezirk und Unionsrepublik an den regionalen NKWD verteilt.
Um auf Nummer sicher zu gehen, entschieden die Machthaber, auf die Aufstellung mehrerer Kandidaten zu verzichten und sich auf eine gemeinsame Liste aus Parteimitgliedern und Parteilosen vorab zu "einigen". Seitdem bekamen die Sowjetbürger einen Wahlzettel mit den Kandidaten ausgehändigt, die man zu "wählen" hatte. Als Michail Gorbatschow sechs Jahrzehnte später "alternative Wahlen" erlaubte, stimmten die Wahlberechtigten sofort gegen die kommunistischen Kandidaten. Diese Legimitationskrise war eine der Ursachen, die schließlich zum Zerfall der Sowjetunion führte.
Im Unterschied zu Schlögel wählt Orlando Figes die "Oral History", um dem Alltag in Russland zwischen 1917 und Stalins Tod nachzuspüren. Der bekannte britische Historiker dokumentiert mit Hilfe von Dutzenden einheimischen Helfern die Erinnerungen der Russen und ihrer Familienmit- glieder. Dabei herausgekommen ist das erschütternde Zeugnis einer über drei Generationen andauernden kollektiven Tragödie.
Terror und Traum. Moskau 1937.
Carl Hanser Verlag, München 2008; 812 S., 29,90 ¤
Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland.
Berlin Verlag, Berlin 2008; 1036 S., 34 ¤