ABGEORDNETE
Krise hat die Bundestagsfraktionen erreicht. Sozialpolitiker sind jetzt wieder stärker gefragt
Fast alle Fraktionen im Bundestag melden den gleichen Trend: Wirtschaftspolitiker, womöglich gar mit eigenem Unternehmen oder selbstständig, kommen ihnen abhanden. Professionelle Berufspolitiker dominieren nicht nur den Reichstag. Ob dies die parlamentarische Arbeit erschwert - darüber ist man sich uneins. Offen ist auch, welche Parteien von dieser Entwicklung im kommenden Wahljahr profitieren werden.
In den Regierungsfraktionen ist der Schwund am größten. Während in der SPD wirtschaftsnahe Abgeordnete wie Gerd Andres, Marion Caspers-Merk, Peter Struck oder Rainer Wend 2009 nicht wieder kandidieren, werden über die Landeslisten wahrscheinlich mehr linke Sozialdemokraten nachrücken. Da Vertreter des rechten Seeheimer Kreises indes mehr über Direktmandate ins Parlament kommen, stehen sie möglicherweise vor einem Problem: Demoskopen wie die "Lüthke Politikberatung" sagen der SPD den Verlust zahlreicher Direktmandate bei der Bundestagswahl 2009 voraus; besonders Seeheimer Wirtschaftspolitiker würden somit das Nachsehen haben.
Auch die Union verzeichnet den Abgang zahlreicher Wirtschaftspolitiker. Während sich Köpfe wie Hildegard Müller und Matthias Wissmann in die Wirtschaft verabschiedet haben und Arbeitgeber-Hauptgeschäftsführer Reinhard Göhner sein Mandat auch abgeben will, hat Friedrich Merz, über Jahre einer der profiliertesten CDU-Wirtschaftspolitiker, für 2009 seinen Rückzug angekündigt. Ein Ersatz für all diese Abgänge ist nicht in Sicht. Allerdings wurde der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Norbert Röttgen, vom "Stern" bereits als "Gegen-Merz" ausgemacht, der mehr für Kapitalismus-Kritik statt für die Macht des Marktes stehe. "Die Idee, der Markt richte es alleine und bedürfe nicht der sittlichen und staatlichen Ordnung, ist gescheitert", so Röttgen zur Wirtschaftskrise.
Josef Schlarmann sieht die geringer werdende Zahl von Wirtschaftsexperten mit sorge. "Kandidaten mit Wirtschaftsexpertise werden kaum noch aufgestellt", klagt der Chef der Unions-Mittelstandsveinigung gegenüber dem "Parlament". "Die Parteien entwickeln zunehmend ein Eigenleben, daher der Rückgriff auf reine Berufspolitiker." Die Folge: Schlarmann macht einen Graben zwischen Politik und Wirtschaft aus, den er auf diesen Trend zurückführt. "Früher wurden Wirtschaftsleute von den Führungsgremien in die Parteien geholt", sagt er. "Heute dominiert der Regionalproporz." Wirtschaftswissen gehe so verloren.
Parteienforscher Peter Lösche sieht in dieser Entwicklung hingegen keinen Nachteil. "Es gibt tatsächlich weniger Manager und auch weniger Gewerkschaftler in den Fraktionen", sagt er. "Aber diese sind auch mehr interessegeleitet als professionelle Politiker." Die aktuelle Finanzkrise verstärke die Professionalisierung der Politik noch. "Politiker werden sich tunlichst fern halten von Managern", sagt er voraus. Und Klaus-Peter Schöppner vom Meinungsforschungsinstitut Emnid: "Politiker reden derzeit schlecht über die Wirtschaft, weil sie sich von ihr allein gelassen fühlen. Sie denken, dass Unternehmer insgesamt ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen, dem ‚Commitment', nicht genug nachkommen." Hinzu komme, so der Demoskop, ein weiterer Trend: "Alle Parteien tendieren nach links - das ist frustrierend für Wirtschaftspolitiker."
Dennoch wird Wirtschaftspolitik bei den zahlreichen Wahlkämpfen 2009 die zentrale Rolle spielen - sorgen sich doch viele Bürger im Schatten der Rezession um ihre finanzielle Zukunft. Nach Ansicht vieler Beobachter könnte die Linkspartei am ehesten vom bevorstehenden Wirtschaftswahlkampf profitieren: Sie beschwört am lautesten die Sorgen der Bevölkerung und setzt auf Wohltaten; ist ihr die Sicherung der Nachfrage doch oberstes Gebot. Ein Rezept, das einigen Wählern gefallen dürfte. Die anderen Parteien tun sich da schon schwerer.
Zwar prognostiziert Parteienforscher Lösche den Grünen Startvorteile, weil sie gemeinhin als sozial-liberal angesehen werden. Den Ruch der Wirtschaftsfeindlichkeit hat die Öko-Partei längst abgelegt. Dennoch fehlt ihr mittlerweile ein wirtschaftspolitischer Kopf. Oswald Metzger, langjähriger Haushälter in der Fraktion, hat der Partei längst den Rücken gekehrt. Und Fritz Kuhn, die Zentralfigur des realpolitischen Flügels schlechthin, schaffte es zuletzt nicht wieder in den Parteirat. Der linke Flügel fühlt sich derweil in seiner Kritik an "neoliberalen" Auswüchsen bestätigt und wittert Aufwind. Die Protagonisten der rot-grünen Agenda-Politik gehen von der Fahne.
Das gilt auch für die SPD. Der Streit in der Partei, wie viele Zumutungen für die Bevölkerung sein dürfen, ist nicht beendet. Und die Linkspartei sitzt den Sozialdemokraten im Nacken. Eigentlich eine Nebenpersonalie, könnte ein Wechsel vor genau einem Jahr andeuten, in welche Richtung die SPD im nächsten Jahr marschieren könnte: Im November 2007 übernahm Andrea Nahles den Posten der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion. Sie löste damit Klaus Brandner ab, einen pragmatischen Befürworter jener Schröderschen Agenda-Politik, die Nahles immer kritisiert hatte. Und da ist noch Wolfgang Clement. Der Ex-Wirtschaftsminister und Grandseigneur der Reformen unter Rot-Grün gab in diesen Tagen enttäuscht sein Parteibuch zurück. Zu unklar sei der SPD-Kurs gegen die Linkspartei, zu gering erachtet das Erbe der Agenda 2010 - daheim fühlt sich Clement in der SPD seit langem nicht.
Dass weniger Unternehmer ins Parlament rücken, hält Joachim Poß indes nicht an sich für einen Makel. "Nicht Jeder mit eigener betrieblicher Erfahrung hat dann im Parlament als Wirtschaftspolitiker geglänzt", sagt der SPD-Fraktionsvize. "Die Kenntnis betrieblicher Abläufe hilft beim Erkennen des Großen und Ganzen nur bedingt." Rainer Wend, scheidender wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, warnt jedoch seine Partei. "Ich wünsche mir, dass das Thema Wirtschaft, im Sinne von Erwirtschaften von Wohlstand und nicht nur im Sinne von Verteilen des Wohlstands, mehr Gewicht bei der SPD bekommt, als es hat", sagt er. "Viele Kollegen drängeln sich danach, im Sozialausschuss zu verteilen. Wir müssen in der SPD stärker diskutieren, wie wir eigentlich unsere Wirtschaft am besten organisieren, damit am meisten für die Menschen herauskommt." Poß dagegen sieht die SPD für das Super-Wahljahr gut aufgestellt. "Der sozialdemokratische Ansatz hat sich längst durchgesetzt", sagt er. "Wir stehen für beide Seiten der Medaille: soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftskompetenz."
Die FDP macht sich derweil Hoffnung, im kommenden Wahlkampf mit dem bei ihr versammelten ökonomischen Wissen zu punkten. Hat sie doch einige Unternehmer und Wirtschaftsanwälte in ihren Reihen. Doch genau diese engen Verflechtungen könnten ihr auch zum Verhängnis werden. "Die FDP trägt den Stempel der reinen Marktwirtschaftslehre", sagt Parteienforscher Lösche, "das wirkt in diesen Zeiten durchaus belastend."
Dieses Dilemma macht auch CDU und CSU zu schaffen. Eigentlich wollte die Kanzlerin im Wahljahr 2009 eine positive Bilanz der Regierungsarbeit ziehen. Das globale Desaster der Finanzmärkte erfordert nun von Angela Merkel Krisenmanagement. Die Feiern werden wohl abgesagt. Zwar wird die Union 2009 Sicherheit versprechen und auf Umfragen verweisen: 41 Prozent der Wähler erkennen in der Union Wirtschaftskompetenz, das sehen für die SPD nur 17 Prozent. Aber im Adenauerhaus wird noch darüber gegrübelt, wie wichtig der Faktor "soziale Gerechtigkeit" wird. Während der Wirtschaftsflügel weniger Abgaben für Großunternehmen fordert, sowie eine Rosskur für das Steuersystem überhaupt, hat die Parteiführung um Merkel die politische Mitte im Visier; der Weg dorthin könnte die Union weiter nach Links führen. Noch zu frisch ist die Erinnerung an den Bundestagswahlkampf 2005, als Merkel zusammen mit dem Finanzrechtler Paul Kirchhof für eine liberale Reformpolitik warb - und beinahe damit scheiterte.
So haben sich die Zeiten geändert. Nach der letzten großen Krise, dem Platzen der "Internet-Blase" 2001, hatten sich die meisten Parteien auf die Agenda-Politik mit Impulsen und Einschnitten verständigt. Doch heute weist das politische Klima in die andere Richtung. Während die Finanzwirtschaft den Markt nicht mehr stützen kann und sich in die schützenden Arme des Staates flüchtet, ist nun keine Rede mehr von Deregulierung und mehr Eigenverantwortung des Bürgers. Die Wähler reagieren in Umfragen auf diese Schlagworte verschreckt. All dies lässt die Union abwarten.
Unions-Mittelständler Schlarmann bedauert, dass die ehrgeizigen Steuerbeschlüsse des Leipziger CDU-Bundesparteitags 2002, ersonnen von Friedrich Merz, in den Giftschränken des Adenauerhauses verschwunden sind und keine Rolle mehr spielen: "Mit dem Namen Friedrich Merz kann man für die CDU noch Punkte machen." Doch der tritt ab. Beim CDU-Bundesparteitag am vergangenen Montag in Stuttgart erhielt Merz, der Mann der Vergangenheit, nach seiner Wirtschafts-Rede lang anhaltenden (Abschieds-)Beifall.