Am 18. Mai 1848 wurde in Frankfurt am Main das erste gesamtdeutsche Parlament eröffnet
Am 18. Mai 1848 wird in Frankfurt am Main die Deutsche
Nationalversammlung eröffnet. Sie ist das erste gesamtdeutsche
Parlament in der deutschen Geschichte. Insgesamt gehören ihr
mehr als 800 Abgeordnete einschließlich der Stellvertreter
und übrigen Nachfolger an. Doch die jeweilige amtliche
Mitgliederzahl liegt erheblich darunter und schwankt aus
verschiedenen Gründen während der gesamten
Sitzungsperiode. Nach der Tagungsstätte im Zentrum Frankfurts
wird das Parlament auch häufig einfach "die Paulskirche"
genannt.
Trotz der unterschiedlichen regionalen und landsmannschaftlichen
Herkunft der Abgeordneten weist die Nationalversammlung ein relativ
homogenes Bild auf. Sie ist ein "Honoratiorenparlament",
dessen Mitglieder überwiegend der gebildeten Mittel- und
Oberschicht angehören, darunter Juristen, Universitäts-
und Gymnasialprofessoren. Zu einem hohen Niveau der Debatten
trägt bei, dass viele Mitglieder große Kenntnisse des
einschlägigen deutschen, französischen, englischen und
amerikanischen wissenschaftlichen Schrifttums besitzen, das immer
wieder zur Beantwortung von Grundsatzfragen herangezogen wird. Am
Eröffnungstag drohen die Verhandlungen in einer Flut von
Wortmeldungen, Anträgen und Abstimmungen zu ertrinken. Doch
findet das Parlament in dem der liberalen Mitte angehörenden
Abgeordneten Heinrich Freiherr von Gagern einen energischen und
durchsetzungsfähigen Präsidenten. Seiner entschlossenen
und zielbewussten Verhandlungsführung ist es zuzuschreiben,
dass die Beratungen bald einen geordneten Verlauf nehmen. In der
Ansprache nach seiner Wahl bezeichnet von Gagern die Schaffung
einer Verfassung für Deutschland und der deutschen Einheit als
Hauptaufgaben der Nationalversammlung.
Bald entstehen auch fraktionsähnliche Zusammenschlüsse, die der Vorbereitung der Meinungs- und Willensbildung dienen. Sie werden nach den verschiedenen Hotels und Gasthäusern der Stadt benannt, in denen sich jeweils Abgeordnete gleicher Grundrichtung zu gemeinsamen Beratungen zusammenfinden. Daraus entwickelt sich das für die spätere Parteienstruktur charakteristische Links-Mitte-Rechts-Schema der Sitzverteilung.
Die gemäßigt liberalen Abgeordneten - insgesamt als
Zentrum bezeichnet, wobei noch zwischen linkem und rechtem Zentrum
unterschieden wird - werden in der Mitte platziert. Ihr Hauptziel
ist die Errichtung einer föderalen konstitutionellen Monarchie
mit einem mehr oder weniger starken Parlament und einem Erbkaiser
an der Spitze. Die demokratisch gesinnten Abgeordneten der
sogenannten gemäßigten Linken wollen eine
parlamentarisch- demokratische Republik, die sogenannte radikale
Linke befürwortet darüber hinaus die Fortsetzung der
Revolution und eine Trennung von den alten Mächten der
Monarchie. Sie geht vom Prinzip der Volkssouveränität
aus. Die Rechte wird gebildet von den Konservativen, die für
eine schwache Zentralgewalt und für starke einzelstaatliche
Regierungen eintreten. Zwischen diesen Gruppierungen gibt es jedoch
eine häufige Fluktuation. So ist die Frankfurter
Nationalversammlung gewissermaßen der Geburtsort des
deutschen Parteienwesens, auch wenn sich die Parteien als
außerparlamentarische Organisationen erst in den folgenden
Jahrzehnten herausbilden.
Zur Erfüllung seiner Hauptziele sieht sich das Parlament von Anfang an vor die doppelte Aufgabe gestellt, eine nationale Verfassung zu schaffen und zugleich für eine zentrale Regierungsgewalt zu sorgen. Nach längeren Debatten entschließt sich das Parlament auf Initiative ihres Präsidenten von Gagern, von sich aus eine Zentralgewalt zu bilden. Sie wählt den österreichischen Erzherzog Johann zum Reichsverweser und beauftragt ihn, einen dem Parlament gegenüber verantwortlichen Ministerpräsidenten zu berufen und eine Regierung einzusetzen. Doch bleibt diese Zentralgewalt relativ machtlos und von der Unterstützung durch die Einzelstaaten abhängig, da sie weder über eigene Einnahmen noch über einen Verwaltungsunterbau oder eigene Truppen verfügt.
Bald nach seiner Konstituierung beschließt das Parlament,
als Erstes einen Grundrechtekatalog aufzustellen und zu
verabschieden. Auf diese Weise sollen der Rechtsstaat und der
Schutz der Bürger vor polizeistaatlicher Willkür ein
für alle Mal gesichert werden. Die später oft gestellte
Frage, ob dem Ziel, die Einheit Deutschlands auf parlamentarischem
Weg zu erreichen, mehr gedient worden wäre, wenn sich das
Parlament statt den Grundrechten zuerst ganz dem organisatorischen
Teil der Verfassung, der Organisation des zu errichtenden Staates
gewidmet hätte, lässt sich kaum überzeugend
beantworten.
Tatsache ist, dass sich schon bald das Blatt gegen die
Nationalversammlung zu wenden beginnt. In Preußen und
Österreich erstarken die gegenrevolutionären Kräfte.
Dies wiederum ruft die radikaleren revolutionären Kräfte
auf den Plan und führt verschiedenen Ortes zu
Gewaltausbrüchen. Eine zweite Welle der Revolution greift auf
Baden, Berlin und Wien über und wird militärisch
niedergeschlagen. Damit gewinnen die gegenrevolutionären
Kräfte, gestützt auf das Militär, immer stärker
die Oberhand.
Am 21. Dezember 1848 beschließt die Nationalversammlung das Gesetz über die Grundrechte des Deutschen Volkes. Damit werden zum ersten Mal auch in Deutschland Menschen- und Bürgerrechte verkündet und in Kraft gesetzt. Die Aufstellung eines Katalogs von "Grundrechten des Deutschen Volkes" gehört zu den Leistungen der Paulskirche, die trotz des Scheiterns ihres Vorhabens, Deutschland im Rahmen einer parlamentarisch-demokratischen Verfassung zu einigen, eine herausragende und fortwirkende Bedeutung behalten haben. Sowohl die Weimarer Verfassung als auch das Grundgesetz und die Verfassungen der Bundesländer fußen in ihren Abschnitten über Grundrechte auf dieser Leistung. Zu ihren Kernstücken gehören die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Aufhebung aller Standesvorrechte, die Gewährleistung der Freiheit der Person, der Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit, der Freiheit der Wissenschaft, der Versammlungs- und Vereinsfreiheit, der Freiheit der Wohnung sowie das Briefgeheimnis und das Petitionsrecht. Auch mit der Abschaffung der Todesstrafe ist die Paulskirche ihrer Zeit weit voraus. Nur fehlen in der Aufstellung noch soziale Rechte im Sinne einer Gewährleistung sozialer Sicherheit, obwohl auch damals schon die soziale Frage eine zunehmende Bedeutung erhält.
Im März 1849 verabschiedet die Nationalversammlung
schließlich die Verfassung, die eine gesamtstaatliche Ordnung
für das damit entstehende Deutsche Reich schaffen soll. Sie
sieht einen föderalen Bundesstaat mit einem Kaiser als
Staatsoberhaupt vor, dem auch die Einsetzung der Regierung zusteht.
Dem Reichstag, der sich aus einem Staatenhaus und einem aus
allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorgehenden
Volkshaus zusammensetzen soll, stehen vor allem die Gesetzgebung
und die Verabschiedung des Haushalts zu. Zwar lässt die
Verfassung die zentrale Frage nach der Zuordnung der Regierung zum
Parlament und ihrer parlamentarischen Verantwortlichkeit offen.
Doch soll ein Gesetz Näheres über die
Ministerverantwortlichkeit regeln. So ist, wie es aussieht, ein
parlamentarisches Regierungssystem zu erwarten.
Lange Zeit wird darum gerungen, ob das Reich den deutschen Teil des habsburgischen Vielvölkerstaats einschließen soll (die sogenannte großdeutsche Lösung) oder ob eine kleindeutsche Lösung ohne Österreich und unter Preußens Führung zu bevorzugen sei. Doch dann lässt die ablehnende Haltung Österreichs gegenüber der Nationalversammlung gar keine andere Lösung mehr zu als die kleindeutsche. Daraufhin wählt das Parlament den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum "Kaiser der Deutschen" in der Erwartung, dass er die Wahl annehmen und an die Spitze eines kleindeutschen Nationalstaats treten werde. Doch als ihm von einer nach Berlin entsandten Reichstagsdeputation die Kaiserkrone angetragen wird, lehnt er unter Berufung auf die von Gottes Gnaden stammende monarchische Souveränität ab. Preußen und andere größere Mitglieder des Bundes wie Bayern und Sachsen verweigern ihre Zustimmung zur Verfassung.
Damit sind das Verfassungswerk und das Bemühen um die Errichtung eines deutschen Nationalstaats praktisch gescheitert. Zwar wird auch weiterhin mit Petitionen, Flugschriften und Volksversammlungen um die Verfassung gekämpft. Doch die zur Fortsetzung des revolutionären Kampfes vor allem im Südwesten entschlossenen radikalen Anhänger der Demokratie verlieren immer mehr die Unterstützung durch die bürgerliche Mitte, die den offenen Kampf, das Abgleiten in einen Bürgerkrieg und Übergriffe auf ihr Leben und Eigentum fürchtet. Immer deutlicher zeigt sich: Die Revolution und die Demokratie haben verloren, die Gegenrevolution hat gesiegt.
Doch obwohl in der nun folgenden Zeit die Kräfte der "Reaktion" vielfach die vorrevolutionären Ordnungen wieder aufzurichten suchen, bleiben die Bestrebungen und die Ergebnisse der Arbeit der Paulskirche nicht ohne geschichtliche Wirkung. Lebendig bleibt nicht nur die Sehnsucht nach einer nationalstaatlichen Einigung Deutschlands, sondern auch die Hoffnung auf eine Verwirklichung der Idee des liberalen Rechts- und Verfassungsstaats mit der Gewährleistung von Grund- und Freiheitsrechten und einer Beteiligung des Volkes an der Staatsgewalt durch ein frei gewähltes Parlament. Aber während schließlich die Sehnsucht nach einem Nationalstaat mit der Reichsgründung von 1871 ihre Erfüllung findet, vergeht danach noch ein halbes Jahrhundert bis zur vollen Verwirklichung der Verfassungsideen der Revolution. Mit der von Otto von Bismarck inszenierten Proklamation des preußischen Königs zum "Kaiser der Deutschen " am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses wird die Reichsgründung besiegelt.
Text: Wolfgang Kessel