Serie (4): Debatten im Deutschen Bundestag - Agenda 2010 im März 2003
Rund 31.000 Reden wurden im vergangenen Jahrzehnt im Plenum des Deutschen Bundestages gehalten. Einige Debatten waren besonders kontrovers - wie jene über die Agenda 2010. Ein kleiner Streifzug durch die bedeutendsten Entscheidungen und Dispute der jüngsten Zeit.
14. März 2003: Debatte um die Agenda 2010
Kaum eine Reform bewegte in den vergangenen Jahrzehnten die Republik so sehr wie die Agenda 2010. Hinter dieser Chiffre verbargen sich grundlegende sozial- und arbeitspolitische Veränderungen. Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wollte die Sozialsysteme sanieren, die Lohnnebenkosten senken, den Arbeitsmarkt flexibler gestalten und die öffentlichen Finanzen konsolidieren.
Doch noch bevor Schröder das Programm im Bundestag vorstellte, war es schon zu heftigen öffentlichen Protesten gekommen. Tausende Menschen demonstrierten gegen die als „Sozial-Kahlschlag“ empfunden Reformen, zu deren Synonym „Hartz IV“ geworden ist: Eine der zentralen Neuerungen der Agenda 2010 sah die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe vor. Auch das Bundesverfassungsgericht befasste sich mehrfach mit Klagen gegen die Hartz-Gesetzgebung. Zuletzt entschieden die Karlsruher Richter im Dezember 2007, die organisatorische Umsetzung verstoße teilweise gegen das Grundgesetz.
Für die SPD bedeutete die Agenda 2010 eine Zerreißprobe: Rund 100.000 SPD-Mitglieder verließen 2003 aus Protest die Partei. Viele sahen in Hartz IV die „Geburtsurkunde der Linkspartei“, wie es der SPD-Linke Ottmar Schreiner nannte.
Vierstündiges Wortgefecht im Plenum
Als am 14. März 2003 Bundeskanzler Schröder um Punkt neun Uhr ans Rednerpult im Bundestagsplenum trat, um seine Regierungserklärung unter dem Titel „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“ abzugeben, waren solche Entwicklungen jedoch nicht absehbar. Schröder hatte zwar angekündigt, mit seiner Rede werde es ein „Heulen und Zähneklappern“ geben, doch im Anschluss an seine Erklärung erntete der Bundeskanzler „lang anhaltenden Applaus von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen“, wie das Protokoll der Sitzung verzeichnet. In der rund vierstündigen Debatte hagelte es aber auch harsche Kritik seitens der Opposition.
Regierungserklärung: Mut zur Veränderung
In seiner rund 90-minütigen Rede forderte Gerhard Schröder „Mut zur Veränderung“. Deutschland kämpfe mit einer „Wachstumsschwäche, die auch strukturelle Ursachen“ habe. Diese zu beheben, bedeute eine „ungeheure Anstrengung“, sei aber möglich, bekräftigte der Bundeskanzler. „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem einzelnen abverlangen müssen“. So solle etwa das Arbeitslosengeld für unter 55-Jährige nur noch zwölf Monate gezahlt und der Kündigungsschutz gelockert werden. Zudem werde das Krankengeld aus der gesetzlichen Krankenversicherung herausgenommen, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt. Solche Einschnitte seien „schmerzlich“, gab Schröder zu, aber notwendig, um die „Substanz des Sozialsystems zu erhalten“. „Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden“, so Schröder.
Opposition: Agenda ist kein großer Wurf
Die damalige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Angela Merkel, kritisierte das Reformprogramm: „Der große Wurf war das nicht“, sagte sie. Die rot-grüne Politik „verwalte den Augenblick“, bliebe ansonsten konzeptlos. Opfer der rot-grünen Politik seien die „4,7 Millionen Arbeitlosen, das knappe Wirtschaftswachstum und 40 000 Firmenpleiten“. In den fünf Jahren der Regierung sei „Zuversicht, Optimismus und der Glaube an eine gute Zukunft“ verloren gegangen, monierte Merkel. Die CDU-Politikerin forderte deshalb Visionen – und mehr Investitionen in Forschung und Bildung: „Wir brauchen mehr als irgendeine Agenda, wir brauchen einen Erfolgsweg“, sagte Merkel. „Das bringt uns wieder an die Spitze Europas“.
Zu wenig Entlastung für den Mittelstand
Auch der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber geißelte die Agenda 2010 als „zu wolkig, zu orientierungslos, zu wenig und zu spät“. Wirtschaft und Arbeitsmarkt befänden sich im „steilen Abstieg“, aber so „führe man Deutschland nicht aus der Krise“. Zuwenig biete die Regierungserklärung vor allem für den Mittelstand, der „auf umfassende Entbürokratisierung und spürbare Entlastungen wartet“, rügte der bayerische Ministerpräsident. Zu spät komme die Erklärung auch für „Hunderttausende von Menschen, die allein in den letzten Wochen und Monaten arbeitslos geworden sind“.
Keine marktwirtschaftliche Erneuerung
Guido Westerwelle kritisierte, die rot-grüne Regierung stelle sich nicht den wirklichen Problemen. „Sie müssten Steuersenkungen und Steuervereinfachungen vornehmen“, forderte der FDP-Politiker. Stattdessen würde das Gegenteil angekündigt: die „faktische Ausweitung der Gewerbesteuer“. „Damit verabschieden Sie sich vom Ziel der Einkommensteuerreform im Sinne von mehr Steuergerechtigkeit“, monierte Westerwelle. Das Land brauche eine wirkliche „marktwirtschaftliche Erneuerung".
Bilanz zum fünften Jahrestag
Mit dem zum 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt und den am 1. Januar 2005 folgenden vier Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden zentrale Reformen der Agenda 2010 umgesetzt. Doch die Reform bleibt auch fünf Jahre nach seiner Verkündung und unter der neuen Regierung von CDU/CSU und SPD umstritten: Während Gewerkschaften und Linkspartei es als „falsche Weichenstellung“ oder „neoliberalen Holzweg“ kritisieren, loben die Arbeitgeber es als „Meilenstein für den Wirtschaftsstandort Deutschland“ und warnen vor einer Aufweichung. Inzwischen hat die neue Bundesregierung Korrekturen vorgenommen: Das Arbeitslosengeld I wird seit Januar 2008 bis zu 24 Monate ausgezahlt, wenn Arbeitslose älter als 58 Jahre sind.