In seinem Abgeordnetenbüro hat der frühere Verkehrsminister Kurt Bodewig ein Bild mit der Aufschrift "Mobilität beginnt im Kopf" hängen. Obwohl das Plakat mit zwei rot-grünen Ampelmännchen auf die frühere Koalition gemünzt ist, ist der Spruch für den Sozialdemokaten bis heute wegweisend. "Damals habe ich begriffen, wie wichtig Europa ist", sagt der stellvertretende Vorsitzende des Europaausschusses. Für ihn ist die EU die "beste Alternative globaler Zusammenschlüsse, weil es keine Teilung der Gesellschaft gibt, anders als auf anderen Kontinenten", sagt er und springt kurz von seinem Stuhl auf, um sich noch seine Visitenkarten auf Russisch einzustecken. Später am Tag wird er eine Delegation aus Putins Reich treffen.
Anders als bei vielen Bürgern Europas ist die EU im fernen Ausland ohnehin gut angesehen. "Wir haben so viele Gesprächsanfragen, die können wir gar nicht bewältigen", erzählt Kurt Bodewig und zieht aus einer Mappe die Teilnehmerliste einer Delegation aus den Asean-Staaten. Darauf finden sich ausschließlich ehemalige Außenminister, General- und Staatssekretäre. Sie wollen das Modell EU erklärt bekommen - zur Nachahmung. Aber auch mehrere südamerikanische Staaten diskutieren, ob sie das sowohl in demokratischer wie wirtschaftlicher Weise erfolgreiche Konzept einführen können. Für Bodewig, der Englisch, ein bisschen Italienisch und Französisch spricht, ist Amerika mit seinen bisweilen vordemokratischen Strukturen und seiner Armut ohnehin keine ferne, unbekannte Welt. Bevor seine jetzt sieben- und achtjährigen Söhne auf die Welt kamen, hat er zu Fuß die Anden überquert, ist sechs Wochen allein durch Alaska und Kanada gewandert. "Wenn man das schafft, nimmt man es auch mit anderen Herausforderungen auf", sagt er und lehnt sich entspannt zurück. Man muss mit dem Ungewissen leben lernen, findet er. Egal, ob plötzlich ein drei Meter großer Elch in einem kanadischen See vor einem steht oder es um das beharrliche Aushandeln des EU-Verfassungsvertrages oder um die EU-Osterweiterung geht. Ohnehin ist die EU-Erweiterung für ihn eher eine Wiederherstellung des alten Europas - mit Deutschland als Mittler. "Wir haben die Westintegration hinter uns und wir haben den Zusammenschluss mit den neuen Ländern gemeistert. Diese Erfahrungen haben andere nicht. Ein langer Atem gehört dazu", sagt er, und meint "genau wie auf dem Rennrad". Nebenbei, dann wenn es die Termine zwischen Berlin und Brüssel zulassen, trainiert Bodewig für den kleinen Triathlon.
Und das Schreckgespenst der Freizügigkeit in Europa, das den deutschen Arbeitsmarkt kaputt macht? Da winkt er nur mit einer Handbewegung ab. Das Gegenteil ist der Fall, der Markt ist groß. Dennoch ist Bodewig, das jüngste von vier Kindern eines Bäcker- und Konditormeisters, kein Neoliberaler. Wirtschaftlicher Erfolg ist für ihn Mittel zum Zweck: Es ist der Gewinn für die Menschen. Er ist überzeugt: Die EU bringt eine Demokratisierung der Mitgliedsstaaten mit sich. "Unsere Standards setzen sich durch."
Der 51-Jährige hat schon früh gelernt, was es heißt, für den Lebensunterhalt zu arbeiten. Mit zehn Jahren brachte er morgens um kurz vor sechs die Brötchen "rund". "Wir haben alle mit angepackt", erzählt er. In der Grevenbroicher Backstube war er vor allem für das Verzieren der Torten zuständig. Bis heute ist Bodewig in seiner Heimatstadt tief verwurzelt und erzählt von den regelmäßigen Treffen mit seinen Kumpels. In den 70er-Jahren hatten sie zusammen für die Einrichtung eines Jugendzentrums gekämpft. Mit Erfolg. "Es war so klein, dass wir es ironisch Besenkammer nannten." Und obwohl Bodewig sich gerne Ziele setzt, sei es die Besenkammer, den Triathlon oder die Europäische Union, sucht er immer wieder kleine Fluchten im Kopf und stöbert in den Sitzungswochen am Abend gerne in den Buchläden rund um den Berliner Savignyplatz. Am liebsten liest er skandinavische Krimis und südamerikanische Romane: Da ist alles so schön skurril, prall und lebensfroh, sagt er und lacht. Doch jetzt drängt der nächste Termin. Er schaut auf die Uhr. Die Türen zum Saal schließen sich. Der Europaausschuss tagt. Eine nächste Runde für Europa beginnt.