Herr Hinck, in ihrem Buch üben sie heftig Kritik an den Eliten in Ostdeutschland. Diese sei still, sie marginalisiere sich selbst und damit den Osten insgesamt. Nun führt die ostdeutsche Angela Merkel die politischen Geschicke des Landes und mit Ministerpräsident Matthias Platzeck stand ihr als SPD-Parteivorsitzender in der Großen Koalition zumindest kurzzeitig ein Ostdeutscher zu Seite. Wie passt das zusammen?
Das ist kein Widerspruch. Mein Buch thematisiert ja die Eliten in den ostdeutschen Bundesländern, in den Regionen, nicht auf der Bundesebene. Frau Merkel trägt als Kanzlerin für die gesamte Bundesrepublik Verantwortung und kann als Einzelperson nicht das Selbstbewusstsein des Ostens steigern. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Und Matthias Platzeck kam aufgrund einer innerparteilichen Krise an die Spitze der SPD. Das war ein Sonderfall. Ich wollte zeigen, wie die Eliten, die vor Ort Visionen entwi-ckeln könnten, aufgestellt sind.
Sie beschreiben die schlechte wirtschaftliche Situation im Osten und stellen einen direkten Zusammenhang mit der depressiven Stimmung unter den Eliten her. Diese seien ratlos und verzagt. Das eine bedinge das andere. Laufen Sie nicht Gefahr, sich dem Vorwurf auszusetzen,, nur wieder das Bild des ewig "jammernden Ossis" zu zeichnen?
Das glaube ich nicht. Unter den 14 von mir porträtierten Vertretern dieser Eliten finden sich ja auch solche, die mit viel Elan an ihre Aufgabe herangehen. Zum anderen geht es ja auch nicht um "die Ossis", sondern um Menschen, die im Osten Verantwortung tragen in Politik, Wirtschaft oder Justiz. Dazu gehören auch die vielen Westdeutschen, die als so genannte Aufbauhelfer in die neuen Länder gegangen sind. Gerade auch bei denen ist mir ein großes Maß an innerer Emigration begegnet.
Besonders hart ins Gericht gehen Sie mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer ins Gericht. Der lege gegenüber seinen West-Kollegen die demütige Haltung eines Alimente-Empfängers an den Tag. Gleichzeitig attestieren Sie ihm, dass er auf Bundesebene immer wieder lautstark Kritik übt an politischen Vorhaben seiner Partei oder der Bundesregierung. Was gilt denn nun?
Naja, Böhmer ist bei den Hauptstadtjournalisten in Berlin beliebt, weil er immer für einen kritischen Spruch gut ist, wenn es um Dinge geht, die sein Land gar nicht so sehr betreffen. Man bekommt von ihm zum Beispiel leicht den Satz, dass diese oder jene Politik der CDU unausgegoren sei. Das hat mit seiner Sozialisation zu tun. Wenn man 30 Jahre als unpolitischer Arzt gearbeitet hat, dann lernt man keine Parteidisziplin mehr. Aber in den Bereichen, in denen es direkt um sein Land geht, ist er alles andere als der selbstbewusste Freigeist. Er hat mir gesagt, dass man die Wirtschaftserfolge, die ja auch vorzuweisen sind, nicht zu laut propagieren dürfe, da diese ja mit dem Geld aus dem Aufbau Ost, also weitgehend aus dem Westen, finanziert worden wären. Und das halte ich durchaus für die demütige Haltung eines Alimente-Empfängers.
Wie erklären Sie sich diese Haltung?
Es ist das schlechte Gewissen. Die Ministerpräsidenten wissen, dass viel Geld in ihre Länder fließt und dass sie noch auf lange Sicht auf der Nehmerseite stehen werden.
Es gibt aber doch auch im Westen Länder, die am Tropf ihrer Nachbarn hängen. Die haben offenbar keine Probleme damit...
Das stimmt. Böhmer gehört ja genau wie drei seiner Ministerpräsidenten-Kollegen im Osten - Harald Ringstorff, Dieter Althaus und Matthias Platzeck - zu jener Elitengruppe, die ich als Seiteneinsteiger bezeichne. Vor der Wende haben alle vier in naturwissenschaftlich-mathematischen Bereichen oder in der Medizin gearbeitet. Die Rituale der bundesrepublikanischen Politik, das laute Trommeln, das Verweisen auf eigene Erfolge, sind ihnen nicht so geläufig.
Sie verweisen darauf, dass der Osten im Zuge der Einheit die Chance vertan habe, auch Mängel im westdeutschen System zu benennen und dem Westen unangenehme Fragen zu stellen. Überfordern Sie den Osten damit nicht? Dort hatte man nach der Einheit doch ganz andere Probleme...
Für die Jahre 1990/91 ist das sicherlich richtig. Damals hatte man im Osten keine Zeit, sich nun auch noch um westdeutsche Anachronismen zu kümmern. Mir geht es aber um die Gegenwart. Heute wäre der Augenblick gekommen, um zu schauen, was man eigentlich an eigenen Erfahrungen in gesamtdeutsche Debatten einspeisen kann. Ein Beispiel: Im Augenblick wird sehr viel über Familienpolitik gesprochen. Da vermisse ich komplett die ostdeutschen Stimmen, ostdeutsche Erfahrungen mit der starken Tradition berufstätiger Frauen, die die Debatte befruchten könnten: So könnte der Osten einmal fragen, ob es eigentlich gerecht ist, dass allein erziehende Verkäuferinnen mit ihrem Ledigen-Steuertarif indirekt das Hausfrauendasein von kinderlosen Gattinnen der oberen Mittelschicht subventionieren. Inzwischen wird das Ehegattensplittung von der Politik hinterfragt, doch die Ostdeutschen sind in solchen Diskussionen ohne eigene Sprache. Der Osten meldet sich immer nur dann, wenn es darum geht, die Solidarpaktmittel zu verteidigen.
Bei der Lektüre Ihres Buches stellt sich dem Leser hier und da die Frage, ob nicht gewisse Mängel, die Sie den Ost-Eliten vorhalten, nicht auch bei den Eliten im Westen festzustellen sind?
Das ist sicherlich richtig. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied. Im Westen gibt es mehr personelle Alternativen. Das hat man sehr gut beobachten können im Fall von Edmund Stoiber. In dem Moment, als der Realitätsverlust bei ihm einsetzte, formierte sich starker innerparteilicher Widerstand. Nun muss er abtreten. Es gibt ein Reservoir an potenziellen Nachfolgern. Im Osten hingegen ist es möglich, dass zwei müde alte Männer wie Harald Ringstorff und Wolfgang Böhmer als Ministerpräsidenten wiedergewählt werden. Es ist doch bemerkenswert, dass sich Wolfgang Böhmer, der im Buch ganz offen zu seiner Ratlosigkeit steht, im vorigen Jahr wieder zur Wahl aufstellen ließ. Die Konsequenz der eigenen Ratlosigkeit müsste doch eigentlich Rücktritt heißen. Aber er weiß, dass die Personaldecke dünn ist. Im Osten herrscht ein Mangel an Eliten. Schon vor der Einheit wanderten viele in den Westen ab, ein Prozess, der immer noch anhält. Viele der ehemaligen Bürgerrechtler sind politisch gescheitert, und die alten Eliten, die SED-Kader, wurden größtenteils abgewickelt.
In der Gruppe der Seiteneinsteiger haben Sie eine ausgeprägte Neigung zum Pragmatimus festgestellt. Pragmatismus sei aber an sich kein Wert an sich, sondern könnte auch für Ideenlosigkeit stehen. Auch hier die Frage, ist dies nicht ebenso eine Eigenschaft von Westpolitikern?
Sicherlich ist die Zeit der großen ideologischen Auseinandersetzungen vorbei. Und für die Lösung von Problemen ist das auch nicht von Nachteil. Aber in den alten Ländern findet man eher Ministerpräsidenten, die noch eine Vision für ihr Land vor Augen haben. Denken Sie nur an Stoibers Formel "Laptop und Lederhose". Das war eine ziemlich kluge Verbindung von Tradition und Moderne, mit der sich die Menschen identifizieren konnten. Ihnen wurde eine Perspektive geboten. Das fehlt im Osten. Wolfgang Böhmer, um ihn noch einmal zu nennen, sagt dagegen: "Wir wissen besser, was nicht geht, als das, was geht."
Kommen wir zur Gruppe der ehemaligen SED-Kader. Sie haben Christina Emmrich, vor der Wende Mitglied im Sekretariat, also im Vorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, und Gabriele Mestan, ehemalige 2. Kreissekretärin im Kreis Hagenow. Beide haben den Weg in die Politik, bei der PDS, zurückgefunden. Mestan ist heute Parlamentarische Geschäftsführerin der Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern, Emmrich ist Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Lichtenberg. Eher beiläufig erwähnen Sie, dass die weiblichen Kader sich nach der Wende leichter getan hätten, als ihre männlichen Kollegen....
Ja, es gibt im PDS-Milieu in den Landesverbänden viele Frauen zwischen 45 und 55, die einen politischen Neuanfang geschafft haben.
Können Sie sich das erklären?
Ich weiß es nicht. Vielleicht stellen sich Frauen einfach pragmatischer auf unumkehrbare Entwicklungen ein. Aber untersucht ist das Phänomen noch nicht.
Sie kritisieren, dass die PDS noch immer ausgegrenzt werde. Grenzen sich denn viele PDS-Mitglieder nicht selbst aus? Die Porträts über Mestan und Emmrich zeigen, dass sie keine tiefere Zuneigung zu diesem Staat empfinden.
Ja, es gibt innerhalb der PDS starke Tendenzen zur Abschottung und zum Einrichten im eigenen Milieu. Diese Abschottung wird durch eine ablehnende Haltung der Umwelt noch verstärkt. Wenn man die PDS als normale Partei behandeln würde, gäbe es für die PDS weniger Anlass zur Abgrenzung.
Sie kritisieren, dass der Osten kein Gespräch mit sich selbst über die eigene Vergangenheit geführt habe. Die Debatte sei zu stark auf den Bereich der Stasi fixiert...
Man muss ja vorsichtig sein mit historischen Vergleichen, aber ich glaube schon, dass der Osten so etwas wie ein 1968 braucht. Im Westen herrschte nach 1945 auch lange ein Schweigen über die Vergangenheit , das brach dann langsam auf, und die jüngere Generation fing an, ihren Eltern Fragen zu stellen. Dieser Zeitpunkt wäre jetzt, 17 Jahre nach der Einheit, auch im Osten gekommen. Es müsste eine differenzierte Debatte über Täter und Opfer sein. Die Frage nach persönlicher Verantwortung und Schuld in der DDR lässt sich nicht so einfach beantworten, wie es das bürgerlich-konservative Lager in den 90er-Jahren glaubte - Stichwort "Rote Socken". Ein Blockpartei-Mitglied und leitender Mitarbeiter in der staatlichen Verwaltung hat mitunter mehr zum Funktionieren einer Diktatur beigetragen als ein FDJ-Sekretär. Was auf jeden Falle nötig ist, ist ein Ende dieses verklemmten Umgangs mit Biografien und der eigenen Verantwortung in der DDR.
Das Interview führte Alexander Weinlein
Eliten in Ostdeutschland. Warum den Managern der Aufbruch nicht gelingt.
Ch. Links Verlag, Berlin 2007; 216 S., 16,90 ¤