Absage an den Kampf der Kulturen
Nobelpreisträger Amartya Sen wettert gegen das Schubladendenken
Mit Hysterie ist nicht zu spaßen. Von Anna O. etwa, eine der ersten und vermutlich berühmtesten Patientinnen Sigmund Freuds wird berichtet, sie hätte unter dem Einfluss einer solchen Krankheit wirres Zeug geredet und unter Wahnvorstellungen gelitten. Schlimmer noch: In seinen Studien zur Hysterie schreibt Freud, Anna O. hätte auf dem Höhepunkt ihrer Krankheit die eigene Muttersprache vergessen und sich nur noch in gebrochenem Englisch unterhalten können. Das Ureigenste, die wesenhafte Sprache, sei zum Opfer ihrer hysterischen Erregung geworden.
Das klingt nach einem Wahn, der weder süß noch wünschenswert ist. Indes: Betrachtet man jenes Fieber, das die westliche Kultur nach dem Trauma des 11. September ergriffen hat, möchte man meinen, die Hitze einer quälenden Hysterie ist auch hier nicht mehr allzu fern. Wahrheiten, die einst untrennbar zur Kultur der Moderne gehörten, werden seit dem Anwachsen des islamistischen Terrors nur noch zaghaft gestottert oder sind der kollektiven Erinnerung gar vollkommen entfallen.
Neben Säkularismus und Offenheit gehört zu diesen bedrohten Dingen vor allem das Wissen um die Vielschichtigkeit menschlicher Identität. Mochte mancher noch bis ins 19. Jahrhundert an einen unveränderlichen Ich-Kern glauben, so betrachtete die Moderne derlei bald als illusorisches Geschwätz. "Ich", so hieß es jetzt mit den Worten Arthur Rimbauds, "ich ist ein anderer". Und Friedrich Nietzsche sprang dem französischen Dichter mit vergleichbaren Sentenzen zur Seite: "Das Ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht." Das klang interessant, mochte einen gemeinen Angestellten aber wenig bekümmern. Nur in der praktischen Anwendung, da übte diese neue Denke einen Reiz auf jedermann aus. Wer sich etwa an einem Tag ganz verzärtelt seiner Gattin hingab und schon am nächsten ein Téte-á-téte mit der Nachbarin ersann, der hatte mit dem Gedanken einer sich wandelnden Wesenssubstanz ein ganz passables Alibi.
Doch derlei ist aus und vorbei! Seit der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus hat sich eine neue Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen bahngebrochen. Was Ich ist, das soll wieder klar zu greifen sein. Dumm nur, das eng umgrenzte Ich-Hüllen im 21. Jahrhundert nicht mehr einfach auf der Straße rumliegen. Unzeitgemäßes musste also her. Fündig wurde man schließlich bei den Identitätskonzepten der Religionen. Seither ist das Ich schlicht Jude, Christ oder Muselmann. Im so genannten "Kampf der Kulturen" scheinen andere Persönlichkeitsmerkmale gar nicht mehr denkbar zu sein.
Vor ein paar Jahren noch wäre vermutlich jeder Anhänger postmoderner Theorie- importe gegen solche Vergröberungen Sturm gelaufen. Seitdem jedoch selbst die philosophischen Diskurse oft flächen- deckend von geistiger Talibanisierung lahmgelegt worden sind, scheint das Projekt Moderne zuweilen nur noch auf dem Papier fortzubestehen.
Einen jedoch gibt es, der erinnert sich noch wehmütig an jene Zeiten, als das einmal anders war. Es ist der 1933 in Santiniketan, Indien, geborene Philosoph und Ökonom Amartya Sen. In seinem gerade erschienenen Buch "Die Identitätsfalle", warnt der Träger des Nobelpreises für Ökonomie energisch davor, die Menschheit in zu kleine und farblose Kulturkästchen hineinzuzwängen. Das frei wählbare Ich würde sonst auf unabsehbare Zeit in absurde Identitätskonstrukte eingesperrt werden. Auch Sen hat dabei verstanden, dass sich die gegenwärtige Menschheit in einer bedrohlichen Krise befindet. Diese aber wäre durch streng abgesteckte religiöse oder kulturelle Identitätskonzepte weder leichter zu verstehen, noch einfacher zu handeln. Im Gegenteil: Die kleinen farblosen Kästchen sind für ihn letztlich ursächlich für die globale Bedrohung. Nur eine erneute Freisetzung des Ichs könne das Steigerungsspiel der Gewalt unterbrechen. "Die große Hoffnung auf Eintracht in unserer aufgewühlten Welt", so Sen, "beruht auf der Pluralität unserer Identitäten, die sich überschneiden und allen eindeutigen Abgrenzungen entgegenstehen."
Nun ist Sen sicherlich kein Gegner menschlicher Identität an sich. Je nach dem, wie man diese definiere, könne sie Quell von Terror und Gewalt oder von Reichtum und Versöhnung sein. Die Vorstellung von einem Menschen, der ganz ohne Identität auskäme, wäre also vollkommen grotesk. Lediglich der Schauspieler Peter Sellers soll sich einmal in einem vom Autor zitierten Interview dahingehend geäußert haben, dass er früher einmal eine Persönlichkeit gehabt habe, diese aber operativ entfernt worden sei. Eine interessante und vielleicht friedensstiftende Option, die aber leider nur in der Phantasie von Filmstars möglich ist. In der Realität hat der Normalbürger lediglich die berechtigte Hoffnung darauf, in Sachen Identität nicht auf singuläre Zugehörigkeiten festgenagelt zu werden.
Wenn es um Fragen von Sein und Sosein geht, dann sollte jeder Mensch gewisse Wahlfreiheiten haben. Genau diese aber sind es, die Amartya Sen zunehmend bedroht sieht. Indem Individuen einzig noch nach religiösen Zugehörigkeiten katalogisiert werden, sind alle anderen Identitätsmöglichkeiten nicht einmal mehr denkbar. Dabei gäbe es unendlich viele von diesen. Allein bei der Aufzählung der eigenen Persönlichkeitsmerkmale kann Amartya Sen fast eine ganze Buchseite füllen. So ist er nach eigenen Angaben Asiat, Bürger Indiens, Ökonom, Autor, Feminist und Anhänger des Laizismus. Und dies sind nur einige Aspekte einer Identität, die sich nach Beruf, politischen Ansichten, Staatsangehörigkeit, Klassenzugehörigkeit und vielen weiteren Kategorien aufdröseln ließe. Das religiöse Bekenntnis scheint da fast keine Rolle zu spielen.
Amartya Sens Buch, das die modeunbewusste Unterzeile "Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt", trägt, stellt sich somit direkt gegen die von Samuel Huntington und anderen vorgebrachte These vom "Clash of civilisations". Während die meisten Kritiker des amerikanischen Soziologen jedoch recht gouvernantenhaft an den Westen apellieren, dieser möge auf Kulturdialog statt auf Kulturkonflikt setzen, lehnt Sen Huntingtons Konzept auf eine radikalere Weise ab. Der Harvard-Professor leugnet schlicht, dass die Menschheit in klar voneinander abgrenzbare Kulturen unterteilt werden könne. Eine solche Sichtweise "vernebelt nicht nur die Gehirne derer, die die These vom Kampf bereitwillig unterstützen, sondern auch derjenigen, die sie in Zweifel ziehen möchten, sich dabei aber an die Grenzen des vorher festgelegten Bezugsrahmen halten".
Gerade dieser fundamentale Zweifel legt die wirklichen Schwächen der gegenwärtigen Identitätsverengungen frei. In Zeiten, in denen es angebracht wäre, die politische und gesellschaftliche Rolle von Muslimen in der Zivilgesellschaft und in der Praxis der Demokratie zu unterstreichen, reduziert der Westen die pluralen Zugehörigkeiten einzig auf ihre religiöse Herkunft. Auf diese Weise, so Sens scharfsinnige Analyse, spiele man letztlich nur all denen in die Hände, die sich schon immer als die wahren und einzigen Vertreter der weltweiten Muslime verstanden hätten.
Das, was an Sens charmant vorgetragenen Gedankenspielen letztlich am meisten erstaunt, ist ihr fast unheimlich vertrauter Klang. Denn mit diesen Thesen steht Sen auf den Schultern von Riesen. Vermutlich hätten auch Rimbaud und Nietzsche mit ähnlichen Worten interveniert, hätten sie bereits damals mit ansehen müssen, wie sich die gerade aufkeimende Moderne in Folge von Hysterie selbst zerlegt hätte. Unter anderen Umständen wäre Sens Buch also vermutlich nur der x-te Beitrag zur Komplexität moderner Identitätskonzepte. Im Koordinatensystem von Terror und Antiterror jedoch dürfte "Die Identitätsfalle" eines der interessantesten Bücher der letzten Jahre sein.
Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt.
Verlag C.H. Beck, München 2007; 208 S., 19,90 Euro