Energiepolitik
Die Einigung über die Förderung von Kohle und Stahl brachte den Integrationsprozess ins Rollen. Die zunehmende Knappheit von Rohstoffen könnte den Staaten der Gemeinschaft jetzt zu neuer Geschlossenheit verhelfen.
Derart symbolträchtig verlaufen Brüsseler Ratsdebatten selten: Die Wirtschafts- und Energieminister der Europäischen Union diskutierten im November 2006 gerade über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Energiepolitik, als im Ratsgebäude im EU-Viertel plötzlich die Lichter ausgingen: Stromausfall.
Der subtile Hinweis auf die Verletzbarkeit von Europas Energienetzen wäre aber gar nicht nötig gewesen, um die Politiker zu überzeugen: Eine zuverlässige Strom- und Gasversorgung ist für die Zukunft der EU zwar existenziell, aber längst nicht so selbstverständlich wie lange angenommen. Dabei hatten Strom und Wärme jahrzehntelang kaum Kopfschmerzen bereitet. Die meisten EU-Staaten hatten ihre Versorgung in Eigenregie geregelt und sich verlässliche Öl- und Gaslieferanten gesucht. Doch zum großen Schrecken aller stellte Russland Anfang 2006 der Ukraine die Gaszufuhr ab, was prompt der EU Lieferengpässe bescherte. Europa spürte plötzlich schmerzlich seine Verwundbarkeit. Seither arbeiten die Vertreter der Mitgliedstaaten und die EU-Kommission fieberhaft an Rahmenbedingungen für eine koordinierte Energiepolitik.
Wie dringlich das Anliegen ist, bewies Anfang des Jahres erneut der Ölstreit zwischen Russland und Weißrussland. Energieressourcen werden zunehmend zum Spielball machtpolitischer Interessen. Für die EU ist das prekär. Schon heute importiert die Union die Hälfte ihres Energiebedarfs von außen, vor allem aus Russland und den Opec-Staaten. In 20 Jahren, prognostiziert die Brüsseler Kommission, werden es 70 Prozent sein. "Die gegenwärtige Energiepolitik ist nicht in der Lage, unsere Energiezukunft nachhaltig zu sichern", meint Claude Mandil, Chef der Internationalen Energieagentur in Paris.
Einig sind sich die EU-Mitglieder bisher aber nur über die Eckpunkte ihrer gemeinsamen Energiepolitik: Sie soll Energie-Lieferungen garantieren und diversifizieren, Europa aus der totalen Abhängigkeit von Öl und Gas befreien, die Netze funktionstüchtig halten und den Wettbewerb sichern. Unumstritten ist auch die Forderung nach mehr Umweltverträglichkeit und Effizienz, im Verbrauch von Energie ebenso wie bei ihrer Produktion. Dabei sollen erneuerbare Energieformen einen Beitrag leisten. Doch so eindeutig das Ziel ist, mit der Routenplanung tun sich die EU-Mitglieder schwer. Gerade beim strategischen Thema Energie will sich kein EU-Staaten viel von Brüssel sagen lassen. Die Geister scheiden sich an zahlreichen Einzelfragen. Ob es um den idealen Energiemix, verbindliche Quoten für Ökostrom, eine gemeinsame Energieaußenpolitik, Regulierung, Kernkraft oder den Umgang mit politisch fragwürdigen Lieferländern geht, überall kollidieren nationale Interessen und Positionen.
Dieses Ringen hat die Energiepolitik der EU während ihrer gesamten Geschichte geprägt. Zwar gab es in den Anfängen, als die Union nur sechs Mitglieder hatte, kurze Phasen größerer Übereinstimmung. So stand in den fünfziger Jahren zunächst die Kohle im Zentrum einer gemeinsamen Energiepolitik. In dem Maß, wie die Bedeutung des Rohstoffs schwand, ging aber auch die Gemeinsamkeit verloren. Das änderte sich auch nicht mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), die am 25. März 1957 durch die Römischen Verträge gegründet wurde. Im Gegenteil: Staaten wie Österreich, das schon 1978 den Ausstieg aus der Atomkraft beschloss, beharren mehr denn je darauf, energiepolitisch souverän entscheiden zu können. Schon dass die EU für 2007 bis 2013 knapp eine Milliarde Euro für Kernforschung ausgeben will, ist für Österreich schwer mitzutragen.
Dabei war die Kernenergie 1957 von den Euratom-Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Italien und Benelux als "unentbehrliche Hilfsquelle für den friedlichen Fortschritt" definiert worden. Die Länder hatten sich wegen der hohen Investitionen zusammengeschlossen. Doch heute setzt nur noch die Hälfte aller EU-Mitglieder auf die Kernenergie, und einige haben wie Deutschland den Ausstieg beschlossen. Nun ist aber mit dem Klimaschutz-Problem die Debatte um die Atomkraft wieder entflammt. Die EU-Kommission gibt sich zwar neutral, ihr Energiestrategiebericht hebt aber die Vorteile der Kernkraft hervor. Ohnehin deckt Frankreich 77 Prozent seines Elektrizitätsbedarfs mit Atomstrom, Litauen gar 80 Prozent. Die Slowakei, Belgien und Schweden kommen auf 50 bis 60 Prozent. Ohne eine klare Antwort auf die Zukunft der Nuklearenergie wird Europa daher kaum eine gemeinsame Strategie entwickeln können.
Ähnlich sensibel ist die Frage einer gemeinsamen Energie-Außenpolitik. Eigentlich will die EU künftig bei Verhandlungen mit Energie-Supermächten wie Russland mit einer Stimme sprechen. Doch es gibt unterschiedliche Auffassung darüber, ob etwa Menschenrechtsfragen wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden dürfen. Auch kritisieren Ostsee-Anrainer wie Polen die geplante, 1.200 Kilometer lange Ostseepipeline, die sich ab 2010 von Russland durch die Ostsee Richtung Deutschland schlängeln soll. Die Regierung in Warschau befürchtet, künftig von russischen Energielieferungen ausgeschlossen zu sein, Schweden oder das Baltikum fürchten Umwelt-Katastrophen. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten ist es der EU aber beim Herbstgipfel 2006 im finnischen Wintersportort Lahti erstmals gelungen, Russland entschlossen gegenüberzutreten. Ohne die Öffnung der russischen Energiemärkte für EU-Firmen und Liefergarantien werde die EU das auslaufende Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und Russland nicht erneuern, so die Drohung.
Einen weiteren, zeitweise hitzig diskutierten Aspekt der künftigen Energiepolitik haben die Staats- und Regierungschefs auf Eis gelegt: Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Trennung von Energieherstellung und -verteilung ist vorerst vom Tisch. Die Kommission wollte großen Energiekonzernen wie E.ON oder der französischen Electricité de France (EdF) die Strom- und Gasnetze wegnehmen, um den Wettbewerb anzukurbeln. Eine solche Entflechtung, warnten Juristen aber, beschere eigentumsrechtliche und verfassungsrechtliche Probleme.
Ebenfalls Widerstand gibt es gegen verbindliche Quoten beim Einsatz erneuerbarer Energien. Die EU-Kommission plädiert für einen Anteil von 20 Prozent bis zum Jahr 2020, doch eine verbindliche Festlegung fällt vielen Staaten schwer. Bisher haben auch nur wenige EU-Länder in erneuerbare Energien investiert. Deutschlands Anteil liegt bei rund fünf Prozent, die EU insgesamt kommt auf knapp sieben. Ohnehin ist völlig ungeklärt, wie der Anteil erneuerbarer Energien auf 20 Prozent gesteigert werden könnte. Die EU hat sich also wieder auf ihre Losung "Gemeinsam sind wir stärker" besonnen, die vor mehr als 50 Jahren eine der Triebkräfte ihrer Gründung war. Doch die Herausforderungen an die Strategie sind immens. Die Konturen einer gemeinsamen Energiepolitik, soviel zeichnet sich ab, werden sich allenfalls in kleinen Schritten he-rausbilden.
Die Autorin ist Korrespondentin
der Zeitung "Die Welt" in Brüssel.