Wertegemeinschaft
Die Zukunft der Union ist heute eng verbunden mit der Frage nach gemeinsamen Zielen. Das war nicht immer so. Den Gründungsvätern der Römischen Verträge waren einst Wirtschaftsfaktoren wichtiger.
Runde Geburtstage sind in der Regel ein Grund zur Freude. Aber unbeschwerte Feierlaune will sich zum 50. Geburtstag der Union nicht einstellen. Von Euroskeptikern, Erweiterungsmüdigkeit und fehlendem Vertrauen in die europäische Idee ist die Rede - vor allem seit den im Jahr 2005 gescheiterten Referenden zur EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden. Mit einer so genannten "Berliner Erklärung" und einem Neuanstoß des Verfassungsprozesses will die deutsche Ratspräsidentschaft nun der mangelnden Begeisterung der Europäer entgegenwirken und setzt dabei vor allem auf eins: Werte. Doch was sind eigentlich europäische Werte? Wie sieht sie aus, die europäische Idee? Was ist es, was die europäische Welt im Innersten zusammenhält?
"Europas Seele ist die Toleranz", gab Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Antrittsrede zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Europaparlament als eine mögliche Antwort. Einer von so vielen europäischen Werten. Doch so selbstverständlich, wie sie heute erscheinen, sind sie in der 50-jährigen Geschichte nicht immer gewesen - zumindest nicht mit Blick auf die Verträge, die die EU konstituieren und die zum Jahrestag so beredt beschworen werden. Denn am Anfang der Union stand das Geld, lässt sich vereinfacht zusammenfassen. In der vertraglichen Geburtsstunde der EU ging es vor allem um Wirtschaft und um Energie. "Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft" (EURATOM) und "Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" (EWG), heißen die beiden Vertragswerke, die wegen ihres gemeinsamen Unterzeichnungsortes "Römische Verträge" genannt werden. Die Titel lassen es bereits vermuten: Menschenrechte, Menschenwürde, Todesstrafe oder Religionsfreiheit sucht man in ihnen vergebens. Daran ändert auch eine spätere Umbenennung des EWG-Vertrags in "Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft", also EG-Vertrag 1992, nichts. Gemeinsame Werte mögen als Ideal in den Köpfen der Gründerväter gespukt haben, Eingang in die Verträge haben sie nicht gefunden. Lediglich Frieden und Freiheit werden von den sechs unterzeichnenden Ländern rund ein Jahrzehnt nach Ende des zweiten Weltkriegs als Ziel beschworen - für mehr reichte es zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden erstmal nicht. Sie verschrieben sich einer Wirtschafts-, keiner Wertegemeinschaft.
An dieser Ausrichtung änderte sich in den folgenden Jahren, ja Jahrzehnten nichts. Bei den Änderungen an den Römischen Verträgen galt es zunächst vielmehr, Reformen anzustoßen und organisatorischen Fragen zu klären, die eine sich ständig um neue Mitgliedstaaten erweiternde Gemeinschaft mit sich brachte. Die "Einheitliche Europäische Akte" setzte im Wesentlichen die wirtschaftliche Marschroute fort. 1986 in Luxemburg unterzeichnet, nahm sie aber immerhin das gemeinsame Eintreten für die Demokratie in die Präambel auf, gestützt auf "die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit". Eine umfassende Änderung der rein wirtschaftlich ausgerichteten Gründungsverträge ließ bis zum Vertrag von Maastricht 1992 auf sich warten.
Das Abkommen in der niederländischen Grenzstadt verfolgte laut seiner Präambel das Ziel, "den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben". Insgesamt wurden mit dem "Vertrag über die Europäische Union" die gemeinsamen wirtschaftlichen Vorhaben um das Ziel einer politischen Union ergänzt. Dabei wurden auch Werte eindringlicher als bisher beschworen: In der Präambel wird ein Bekenntnis "zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit" abgelegt. In Artikel sechs wurde zudem die Achtung der Grundrechte unter Berufung auf die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten vereinbart. Erst der Vertrag von Amsterdam machte fünf Jahre später die Grundrechte zu einem bestimmenden Grundsatz der Europäischen Union, indem er Artikel sechs des Maastrichter Vertrags präzisierte und erweiterte: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam", heißt es dort ergänzend. Zudem hielt der Amsterdamer Vertrag die Möglichkeit fest, Verletzungen der Grundrechte in den Mitgliedstaaten festzustellen und Verstöße mit Sanktionen belegen zu können. Darüber hinaus finden sich in der Schlussakte des Vertragswerks unter anderem Erklärungen zur Abschaffung der Todesstrafe sowie zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften. Darin wird festgehalten, dass die Grundrechte der EU explizit auch die Abschaffung der Todesstrafe vorsehen. Über diesen Schritt ging der im Jahr 2001 vereinbarte und 2003 in Kraft getretene Vertrag von Nizza aber nicht mehr hinaus. Dennoch wurde während der Verhandlungen zu dem Abkommen die Charta der europäischen Grundrechte proklamiert. In 54 Artikeln hält das von einem Konvent unter Vorsitz des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog ausgearbeitete Dokument fest, was die Wertegemeinschaft ausmacht. Untergliedert in die Bereiche Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte finden sich darin Werte wie die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, das Recht auf Leben oder auch das Verbot der Todesstrafe.
Diese und andere Werte finden sich in einer umfassenden Liste, die im Entwurf der europäischen Verfassung als zweites Kapitel verankert und damit für alle Mitgliedstaaten rechtsverbindlich werden soll - sofern der Entwurf nicht verändert wird und kein weiteres Mal scheitert. Für die Werte wäre das ein entscheidender Bedeutungsgewinn, weit über die bisherige Entwicklung hinaus. Mit der Charta der europäischen Grundrechte als eigenständiges Kapitel in einer die EU neu bestimmenden Verfassung stünden die Werte schließlich auf einem festeren Fundament.
Unstrittig ist diese Entwicklung der Werte aber nicht, was sich auch an der Diskussion um einen Gottesbezug in der Verfassung zeigt - eine Debatte, die im Vergleich zu den bisherigen Verträgen in dieser Form noch nicht geführt wurde. Dahinter steht auch die Frage, ob die EU christlich ist und wo ihre Grenzen liegen. 50 Jahre nach dem Beginn der europäischen Einigung steht die Union somit vor einer größeren Aufgabe, als sich nur bereits früher formulierter Werte zu erinnern.
Die Autorin ist Mitarbeiterin der Nachrichtenagentur KNA in Brüssel.