AUSSENHANDELSPOLITIK
Als Wirtschaftsmacht setzt die EU auf einen liberalisierten Welthandel. Doch viele Schwellenländer halten das nur für ein Lippenbekenntnis.
Peter Mandelsons wichtigstes Argument ist kurz und einfach, und im Konferenzzentrum im schweizerischen Wintersportort Davos kommt es ihm leicht über die Lippen. "Hunderte Milliarden Dollar!" Jahr für Jahr, beschwört der EU-Handelskommissar seine Zuhörer, könnte der weltweite Wohlstand um diese imposante Summe wachsen. Sowohl Industrie- als auch Entwicklungsländer würden davon profitieren, betont er.
Zwischen den Spitzenpolitikern und -managern aus aller Welt, die sich an diesem Januartag 2007 auf dem Weltwirtschaftsforum versammeln, ist Mandelson einer der prominentesten Gäste. Er schiebt sich an italienischer und französischer Designermode vorbei und schüttelt chinesische, indische, und brasilianische Hände. Seine Mission: Nord- und Südstaaten zur Unterzeichnung eines globalen Handelsvertrags zu bewegen.
Ob es um Zucker oder Baumwolle, Autos, Computer-Software oder Kraftwerke geht: Den Freihandel voranzubringen, ist Mandelsons Hauptaufgabe. Er soll "zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und zum Abbau der Zollschranken beitragen". So steht es im EWG-Vertrag von Rom von 1957.
Ein kühnes Mandat, dessen Umsetzung Mandelson schon manche schlaflose Nacht gekostet hat. Denn die Handelsliberalisierung ist eines der schwierigsten politischen Aufgabenfelder überhaupt. Der Teufel steckt im Detail. Mögen sich die meisten Regierungen weltweit in der Theorie zum Freihandel bekennen - wer wann welche Industrie zu welchen Bedingungen in den globalen Konkurrenzkampf schickt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Europäische Union ist heute die wichtigste Handelsmacht der Welt. Wichtigster Handelspartner der Union sind die USA, doch bereits knapp ein Drittel der EU-Ein- und Ausfuhren werden mit Entwicklungsländern getätigt. Der Außenhandel ist für die Wirtschaftskraft der Union von entscheidender Bedeutung.
Nur zu gerne würde Mandelson an die Erfolge seiner Brüsseler Vorgänger anknüpfen. Zum ersten Mal hatte Europa seine Stimme bei den GATT-Gesprächen von 1964 bis 1969 über einen allgemeinen Zollabbau ("Kennedy-Runde") erhoben. Die Kommission verhandelte dort im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die noch aus Frankreich, Deutschland, Italien und den Benelux-Ländern bestand.
Auch in den nachfolgenden Handelsrunden, der "Tokio"- und der "Uruguay"-Runde, konnte die Europäische Gemeinschaft für ihre Unternehmer vorteilhafte Abschlüsse erzielen. Für ihre Handelspartner wurde sie zunehmend attraktiv - vor allem wegen ihres ständig wachsenden und immer reibungsloser funktionierenden Binnenmarktes. Zwar gab es auch herbe Dämpfer für Brüssel, etwa 1998, als das MAI-Abkommen zum Investorenschutz am Widerstand Frankreichs und anderer Länder scheiterte. Die Bürger hatten den Entwurf als zu neoliberal abgelehnt. Doch insgesamt erreichte die EU viele ihrer Ziele. Bis heute sind die Ex- und Importe der EU gegenüber 1970 um rund das Zwanzigfache gewachsen. Die EU bestreitet ein Fünftel des gesamten Welthandels - obwohl sie gerade einmal sieben Prozent der Weltbevölkerung stellt. Sie ist damit, noch vor den USA und China, der größte Handelsblock der Welt.
Dem Rest der Welt blieb dieser Zuwachs an Macht und Wohlstand nicht verborgen. 2001 rief die Welthandelsorganisation WTO, der 150 Länder und Handelsblöcke angehören, in Doha im Wüstenemirat Katar die "Doha-Entwicklungsrunde" ins Leben. Die Industrieländer versprachen, den Anliegen der ärmeren Staaten ein besonderes Augenmerk zu schenken.
Ironischerweise ist es die Doha-Runde, die der Welthandelsorganisation (WTO) gerade ihre härteste Bewährungsprobe seit ihrer Gründung beschert. Denn viele Schwellenländer sind selbstbewusster geworden. Wichtigster Streitpunkt sind bis heute die Agrarsubventionen der Europäischen Union, der USA und Japans - in den Augen vieler ärmerer Staaten ein massiver Widerspruch zum Bekenntnis der Industrienationen zum Freihandel.
Die reichen Länder drückten die Weltmarkt-preise durch unfaire öffentliche Beihilfen auf Dumping-Niveau, schimpfen Brasilien, Indien und andere Staaten. Sie fordern daher drastischere Kürzungen, als die nördlichen Partner ihnen einräumen wollen. "Holländische Zwiebeln sind bei uns einfach billiger", klagt etwa El Hadj Hane, ein Bauer und Entwicklungsaktivist aus dem afrikanischen Senegal. Dass die Europäische Union ihm einen besseren Zugang zu ihrem eigenen Markt anbietet, beeindruckt ihn nicht: "Davon würden vor allem die großen Agrarkonzerne profitieren", zeigt er sich im Interview mit dem österreichischen "Standard" überzeugt.
Die Indus-
trienationen fordern ihrerseits Zugeständnisse bei den
Einfuhrzöllen für Industriewaren. Doch die Doha-Runde
bietet noch viel mehr Stoff für Konflikte: Auf der Agenda
stehen unter anderem auch die Öffnung der
Dienstleistungsbranchen und Fragen zum geistigen Eigentum. Beide
Themen sind für die europäische Industrie von vitalem
Inte-
resse. "Eine Katastrophe" wäre es, wenn die Verhandlungen von
Doha nicht zum Abschluss kämen, sagt der britische
Premierminister Tony Blair. Ähnlich sieht es auch
EU-Handelskommissar Mandelson: "Besser ein Abkommen, das nicht
ideal ist, als überhaupt kein Abkommen", ruft er seinen
Zuhörern in Davos zu. Dabei blickt er nicht zuletzt auf
Frankreich, das sich dem Abbau von Agrarzöllen und
-subventionen besonders hartnäckig widersetzt. Worin sein
eigener Plan B besteht, hat Mandelson indessen schon klar gestellt.
Er will künftig wieder verstärkt auf bilaterale Abkommen
setzen, der Schwerpunkt soll auf Asien und Südamerika liegen.
Ein Dämpfer für das multilaterale System, das den
Schwachen immerhin die Möglichkeit verschafft, Allianzen zu
schmieden. Und eine Rückkehr zur "Spaghettischüssel", wie
europäische Juristen und Unternehmer stöhnen. Weit
über 100 bilaterale Verträge hat die EU in der
Vergangenheit abgeschlossen. Solche Abkommen seien "immer nur die
zweitbeste Option", meint der EU-Parlamentarier Daniel Caspary
(CDU) stirnrunzelnd. Alle Beteiligten hätten höhere
Kosten, da sie sich mit lauter verschiedenen Regeln arrangieren
müssten.
Andere Kritiker indessen sind der Ansicht, dass die Verantwortung der EU noch viel weiter reicht. Nicht nur die Chancen des entfesselten Handels gelte es zu sehen, unterstreichen sie, sondern auch die großen Risiken, die mit ihm verbunden sind. "Soziale und ökologische Mindeststandards für den Welthandel" fordert Hans-Peter Martin, "Ex-Spiegel"-Redakteur und fraktionsloser EU-Abgeordneter. Globaler Wettbewerb werde dann unfair, wenn Kinderarbeit, Dumpinglöhne, Repressalien gegen Gewerkschafter und Umweltraubbau im Spiel seien, sagt er. Die WTO müsse daher mit entsprechender Sanktionsmacht ausgestattet werden.
Aber auch sich selbst müsse die EU demokratischer organisieren, verlangen viele Kritiker. Im Moment stimmen EU-Regierungen und Kommission viele handelspolitische Vorhaben hinter verschlossenen Türen ab. Das EU-Parlament hat praktisch keine Mitspracherechte. Nichtregierungsorganisationen finden erst recht schwer Gehör.
"Wichtig ist, eine gute Kommunikation zu allen Akteuren aufzubauen", meint Raúl Moreno, ein Ökonom aus El Salvador, der sich intensiv mit der Handelspolitik der EU und der USA befasst, und fügt hinzu: "Die Verhandlungen dürfen nicht den Eliten überlassen werden."