Ostkongo
Nur ein Bruchteil der HIV-Infizierten hat Zugang zu Medikamenten. Indes warten Aids-Generika auf Zulassung.
D ie Pharmakina liegt an der Hauptsstraße von Bukavu nach Goma. Im Schneckentempo rollen voll besetzte Busse, Laster und Motorräder um die enormen Matschpfützen, in denen sich das Regenwasser sammelt. Im März 2006 fuhr Chamikire Anonciata mit einem dieser Busse von ihrem Heimatdorf zum Markt in Bukavu, um Stoff und Garn einzukaufen. Dabei fiel der Blick der 37-jährigen Näherin auf den grünen Schriftzug an der leuchtend weißen Gebäudefront: "Pharmakina - Diagnose und Behandlung von HIV/Aid." In der Nacht hatte die unverheiratete Frau, die zwei Kinder im Alter von sechs und vier Jahren hat, einen Traum: Sie würde endlich einen Ehemann finden. Als sie morgens aufwachte, wusste sie, dass sie vorher einen Aids-Test machen würde, wie es im Radio immer empfohlen wird.
Bereits am Nachmittag saß sie im Beratungsraum des Diagnose- und Behandlungszentrum der Pharmakina Marius Asila gegenüber. Er klärte Chamikire Anonciata über Testverfahren und das mögliche Ergebnis - die meist tödlich verlaufende Immunschwächekrankheit - auf. "Zu den Grundprinzipien gehört, dass der Test freiwillig und die gesamte Behandlung streng vertraulich ist", erklärte er der Frau. Sie willigte ein und nach drei obligatorischen Tests hatte sie die erschütternde Gewissheit: Sie war infiziert. Der Traum von Ehemann und Heirat war geplatzt.
Vor anderthalb Jahren öffnete das HIV/Aids-Zentrum auf dem Gelände der Chininfabrik Pharmakina in der Millionenstadt an der ruandisch-kongolesischen Grenze seine Tore. Seitdem unterziehen sich täglich bis zu 15 Menschen dem Test. Bei fünf Prozent, schätzt Marius Asila, ist das Ergebnis positiv. Bis heute werden hier 152 Menschen als Patienten geführt. Diese Infizierten gehören zu einer Minderheit nicht nur im Kongo, sondern auf dem afrikanischen Kontinent. Für sie ist die Diagnose kein Todesurteil. Denn sie werden unter strenger ärztlicher Aufsicht mit dem antiretroviralen HIV/Aids-Generikum "Afri-Vir" behandelt, das die Pharma-Firma seit Juli 2005 produziert und für 22 Dollar im Monat verkauft.
Antiretrovirale Medikamente (ARV) können die Immunschwächekrankheit zwar nicht heilen, jedoch die Virusvermehrung unterdrücken und das Auftreten von Begleitinfektionen wie Tuberkulose oder Hirnhautentzündung erheblich verringern. Der Gesundheitszustand der Infizierten verbessert sich erheblich. Lange waren diese Behandlungen für Kranke in Afrika unerschwinglich. Aufgrund der Patentregelungen des TRIPS-Abkommens (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights) gilt für Medikamente ein Patentschutz von 20 Jahren. Dadurch wird die Konkurrenz von billigen, wirkstoffgleichen Nachahmungen, den so genannten Generika, unterbunden und die Preise für Aids-Medikamente auf einem Niveau zwischen 10.000 bis 15.000 Dollar im Jahr gehalten. Besteht allerdings ein Gesundheitsnotstand, können Länder Zwangslizenzen auf wichtige Medikamente vergeben und diese als Generika von einheimischen Firmen produzieren lassen. Auch Ankäufe aus anderen Ländern, in denen Generika produziert werden wie Indien sind möglich. Auf internationalen Druck und durch den Wettbewerb mit diesen Nachahmungen mussten die Pharmakonzerne die Preise in den afrikanischen Ländern in den vergangenen Jahren stark senken.
Verglichen mit den Nachbarländern ist die HIV/Aids-Infektionsrate im Kongo mit 4,6 Prozent Neuinfektionen relativ niedrig. Doch sind die Kriegsfolgen noch nicht absehbar, insbesondere die der systematischen Vergewaltigungen von Frauen durch Rebellengruppen im Hinterland von Bukavu, die bis heute fortdauern. Nach offiziellen Schätzungen leben bis zu 2,5 Millionen Menschen im Kongo mit Aids, davon bedürfen wenigstens 200.000 Menschen einer antiretroviralen Therapie. Doch nur 6.000 Menschen, nicht einmal ein halbes Prozent der Infizierten, erhalten die lebensrettenden Medikamente.
"Neben Malaria und Tuberkulose ist Aids die dritte große Geißel Afrikas", sagt der deutsche Geschäftsführer der Pharmakina, Horst Gebbers. "Nachdem einige unserer besten Mitarbeiter erkrankt waren, wurde uns klar, dass wir dagegen etwas tun müssen." Dabei kannte er sich bislang nur mit der Bekämpfung von Malaria aus: Seit der Firmengründung 1942 stellt das Unternehmen Chinin her. Heute ist die Pharmakina Marktführer in der Chininproduktion, das sie zu Malariamitteln für den afrikanischen und asiatischen Markt weiterverarbeitet, und mit 800 Festangestellten und 1.200 Saisonarbeitern der größte Arbeitgeber im Ostkongo. Etwa 20.000 Menschen in der Region leben von diesen Gehältern.
Mit Unterstützung durch die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und das Medikamentenhilfswerk "aktion medeor" nahm der ehemalige Entwicklungshelfer den Kampf gegen die Immunschwächekrankheit im Jahre 2002 auf. In einem deutschen Nachrichtenmagazin las er einen Artikel über die thailändische Pharmazeutin Krisana Kraisintu, die für die thailändische Governments Pharmaceutical Organization einen Wirkstoffcocktail kombiniert hat, der aus drei Komponenten besteht. Das war insbesondere für Menschen in Entwicklungsländern eine pharmazeutische Revolution, mussten die HIV-Infizierten nunmehr lediglich morgens und abends eine Tablette einnehmen und nicht mehr drei unterschiedliche Wirkstoffe über den Tag verteilt. Dieses Generikum wurde 2002 in Thailand zugelassen und seitdem landesweit verabreicht. Gebbers nahm Kontakt zu Krisana Kraisintu auf und lud sie nach Bukavu ein.
Zusammen mit der GTZ und "aktion medeor" baute die Pharmakina neue Produktionsräume, Labore und das Behandlungszentrum, die sie mit technischen Geräten von höchstem internationalem Niveau ausrüsteten. Die Herstellung erfolgt gemäß den geltenden EU-Richtlinien, sodass die kongolesischen Behörden umgehend die Vertriebserlaubnis erteilten. Bis zu 180.000 Afri-Vir-Tabletten können pro Tag in der Pharmakina hergestellt werden.
Antiretrovirale Medikamente können nur in Verbindung mit intensiver Betreuung verabreicht werden. Dafür ist Pierre Prince Mulema, Leiter der HIV/Aids und ARV-Abteilung, zuständig. Er führt die Untersuchungen durch und veranlasst die Labortests, wie das Zählen der CD-4-Helferzellen. Diese Zellen koordinieren das Immunsystem. An ihrer Anzahl lässt sich ablesen, wie stark ein Körper durch Infektionen geschwächt ist. So kann die Therapie mit Afri-Vir erst ab einem Wert von 200 Helferzellen pro Kubikmilimeter Blut begonnen werden.
Chamikire Anonciata lag vor einem Jahr weit unter dem kritischen Wert. Zur Stabilisierung des Immunsystems hat Pierre Prince Mulema ihr zunächst eine Prophylaxe verabreicht. Dabei zeigten sich die ersten Probleme, die laut Mulema typisch für die Bewohner eines Entwicklungslandes seien. "Ich verdiene kein Geld, weil ich im Moment keine Kleider verkaufe", erklärt die Frau mit leiser Stimme. "Deshalb haben meine Kinder und ich nur sehr wenig zu Essen." Auf Anraten ihres Arztes hat sie sich für die Einnahme am Abend entschieden. "Da ist sicher, dass ich etwas esse."
Heute wurde der kleinen, schmalen Frau Blut abgenommen, das gerade in dem nach internationalen Standards ausgerüsteten Labor, eines der modernsten in dem zentralafrikanischen Land, untersucht wird. Wenn Chamikire Anonciatas CD-4-Wert zufrieden stellend ist, kann die Behandlung beginnen.
Vor Behandlungsbeginn müssen die Patienten ein eisernes Training durchlaufen. "Zunächst schulen wir die Akzeptanz, indem wir ihnen die Behandlungserfolge zeigen", sagt der Mediziner. Manchmal berichten andere Patienten von ihren Fortschritten: Wie sie zugenommen haben, sich körperlich fit fühlen und wieder arbeiten können. Als nächstes trainiert er die regelmäßige Einnahme. Die Patienten müssen zur absoluten Zuverlässigkeit erzogen werden, so Mulema. "Das ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung, sonst kann es schnell zu Resistenzen kommen." Die Einnahme von mehreren Medikamenten übt er mit unterschiedlich farbigen Bonbons. Wichtig sind auch die Themen Ernährung und Sexualberatung. Die Kosten für Medikament und Behandlung betragen bis zu 100 Dollar im Monat, doch diese Summe zahlen nur diejenigen, die es sich leisten können. Viele Patienten wie Chamikire Anonciata werden im Behandlungszentrum der Pharmakina umsonst behandelt, diese Kosten trägt das deutsche Medikamentenhilfswerk "aktion medeor".
Eine letzte Hürde hat die Pharmakina vor der breiten Produktion von Afri-Vir noch zu nehmen. Trotz der nationalen Zulassung durch die kongolesische Gesundheitsbehörde benötigt sie die Zertifizierung durch die Weltgesundheitsorganisation WHO. Erst dann kann Afri-Vir in die Nachbarländer exportiert oder an internationale Organisationen im Kongo verkauft werden. Um die Qualität von Medikamenten zu sichern, hat die WHO ein Prüfverfahren entwickelt, das bis zu zwei Jahre dauern kann und schätzungsweise 100.000 Dollar kosten wird. Die meisten Krankenstationen und Hospitäler im Kongo werden von internationalen Organisationen betrieben, die nur auf WHO-empfohlene Medikamente zurückgreifen dürfen. Deshalb behandeln sie die HIV-Infizierten immer noch mit Generika, die in Indien hergestellt werden. Pierre Prince Mulema hat das Ziel deutlich vor Augen: "Wir haben die Kapazitäten, um einen Großteil der HIV-Infizierten im Kongo mit Afri-Vir zu versorgen."