IRAN
Nach den Wahlen überziehen Massenproteste das Land. Das Regime will die Opposition zermürben
Die Islamische Republik Iran erlebt die schwerste innere Krise seit ihrer Gründung vor 30 Jahren. Zehntausende Menschen gehen auf die Straße, um gegen das Ergebnis der Präsidentenwahlen vom 12. Juni zu protestieren. Ihrer Meinung sind die Wahlen gefälscht worden. Tatsächlich gibt es erhebliche Zweifel, ob der amtierende Präsident Mahmud Ahmadinedschad 65 Prozent der Stimmen bekommen hat. Sein Kontrahent Mir Hussein Mussawi erhielt nach offiziellem Wahlergebnis nur 34 Prozent. Seine Anhänger fühlen sich bestohlen. "Wo ist meine Stimme?" schreiben die Demonstranten auf Plakaten und ziehen durch Teheran. Es sind die größten Massendemonstrationen seit der Revolution im Jahr 1979.
Das Regime versucht auf diese Herausforderung zu reagieren - und das gleich auf mehreren Ebenen. In den ersten zwei Tagen ging es mit Härte gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen mindestens sieben Menschen ums Leben. Danach aber bekamen die Polizeikräfte und die Basiji, eine paramilitärische Organisation, offensichtlich die Order, sich zurückzuhalten. Das Regime fürchtete, dass es bei weiterem Blutvergießen zu einer unkontrollierbaren Eskalation kommen könnte. Gleichzeitig wurde die Berichterstattung durch in- und ausländische Medien erheblich eingeschränkt. Zwar weiß man von Protesten in Teheran, aber so gut wie keine Nachrichten gibt es aus anderen Städten wie Isfahan, Shiraz, Tabriz oder Bandar Abbas. Das Regime kontrolliert den Informationsfluss weitgehend.
Klar ist, dass das gesamte System wankt. Die Demonstrationen sind dafür nur eine Ursache. Wichtiger noch ist, dass das Establishment der Islamischen Republik tief gespalten ist. Es herrscht ein bitterer Machtkampf zwischen Hardlinern und pragmatischen Konservativen. Ahmadinedschad repräsentiert die harte Fraktion, während der ehemalige Präsident des Landes, Hashemi Rafsandjani, der informelle Führer der Pragmatiker ist. Auch Mir Hussein Mussawi, der Kandidat der Opposition, gehört eher zur Fraktion Rafsandjani - er hat sich jedenfalls nie als liberaler Reformer hervorgetan. Außerdem ist er alles andere als ein Charismatiker, der die Menschen zu begeistern weiß. Trotzdem projizieren Millionen Menschen ihre Hoffnungen auf Mussawi. Er wurde ganz unerwartet zu einem Vehikel für ein Streben nach Freiheit, das die Islamische Republik unterminieren könnte.
Genau diese Gefahr hat Haschemi Rafsandjani frühzeitig erkannt. Er schrieb vor den Wahlen einen Brief an den obersten religiösen Führer des Landes, Ali Chameini, und warnte ihn vor Wahlfälschungen. Das würde Konsequenzen für alle haben. "Morgen," schrieb Rafsandjani, "wird es Sie treffen."
Ali Chameini ist laut Verfassung die mächtigste Persönlichkeit des Landes. In allen Fragen hat er die letztgültige Entscheidungsgewalt. Der Ausgang der Krise wird daher wesentlich von seinem Verhalten abhängen. Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse sagte Chameini, das Ergebnis sei ein "Gottesgeschenk". Wenige Tage später erklärte er sich aber bereit, dieses "Gottesgeschenk" überprüfen zu lassen. Ein Teil der Wahlen soll nun neu ausgezählt werden. Das ist vermutlich nur ein taktisches Zugeständnis an die Opposition. Chameini will Zeit und die Opposition zermürben. Trotzdem bleibt sein "Rückzieher" bemerkenswert. Er ist Beweis für eine gewisse Flexibilität des Regimes.
Dafür gibt es noch weitere Anzeichen. Das iranische Parlament zum Beispiel will sich jetzt mit den Vorwürfen der Wahlfälschung befassen. Bereits im Vorfeld wurde klar, dass viele konservative Politiker, sehr kritisch gegenüber Ahmadinedschad stehen. Ahmad Tavakoli, stramm konservativer Direktor des Studienzentrums des Parlaments, sagte: "Wir müssen akzeptieren, dass 14 Millionen Wähler nicht für Mahmud Ahmadinedschad gestimmt haben. Sie haben berechtigte Fragen. Sie sind weder Diebe noch Schläger - und sie sind schon gar kein Staub!" Ahmadinedschad hatte einen Tag nach der Wahl, die Demonstranten als "Staub und Schmutz" bezeichnet und damit die ohnehin schon aufgeheizte Stimmung noch weiter verschärft. Inzwischen hat sich Mahmud Ahmadinedschad dafür fast entschuldigt: "Wir mögen alle!", sagte er ein paar Tage nach seiner Provokation.
Eine der entscheidenden Fragen ist, wie einig sich die Demonstranten sind und was sie wirklich erreichen wollen. Bisher fordern sie nur eine Wiederholung der Wahl - mehr nicht. Das heißt, sie bewegen sich innerhalb des Institutionengefüges der Islamischen Republik. Das ist nur konsequent, denn auch Mir Hussein Mussawi stellt keine Alternative zum System dar - er will es auch nicht. Ali Chameinei hat bei einer mit Spannung erwarteten Rede am 19. Juni beim Freitagsgebet in Teheran genau das hervorgehoben: "Es geht nicht um revolutionäre und nicht-revolutionäre Kräfte. Alle vier Präsidentschaftskandidaten bekennen sich zu unserem System." Er lobte Mussawi ausdrücklich als loyalen Bürger des Landes. Chameini versuchte ganz offensichtlich integrierend zu wirken - gleichzeitig war seine Rede aber auch mit Vorwürfen an das Ausland und seinen "Kräften" im Inneren des Landes bestückt. Das war eine unverhohlene Drohung. Chameini hat damit auch eine rote Linie gezogen - bis hierhin und nicht weiter.
Es kann der Moment kommen, da die Demonstranten rufen: "Nieder mit der Islamischen Republik" - das würde mit Sicherheit zu einer Verhärtung des Regimes führen. Die Revolutionsgarden werden kaum kampflos den Platz räumen.