Russland
Ein Sammelband beschreibt Höhen und Tiefen des hundertjährigen Parlamentarismus
Einer der einflussreichsten russischen Politiker des 19. Jahrhunderts, der Monarchist Konstantin Pobedonoszew, war zutiefst davon überzeugt, dass eine parlamentarische Demokratie mit der russischen Seele unvereinbar sei. Auch wenn diese Meinung derzeit in Russland nur noch sehr wenige teilen, suchte die politische Führung unter Präsident Wladimir Putin nach einem "russischen Sonderweg", der so genannten "gelenkten Demokratie". Sein Nachfolger, Präsident Dmitrij Medwedew, setzt andere Akzente: Er bezog sich vor kurzem auf einen universellen Demokratie-Begriff.
In Erinnerung an die erste Legislaturperiode der russischen Staatsduma vor 100 Jahren legten 17 Historiker den Sammelband "Von Duma zu Duma" über die Höhen und Tiefen des Parlamentarismus in Russland und der Sowjetunion vor. Leider beschäftigen sich die das zaristische Russland betreffenden Artikel mit einer Ausnahme lediglich mit der zweiten bis vierten Duma (1906-1917); auf die Darstellung der Tätigkeit der ersten Duma wird ganz verzichtet. Lesenswert ist allerdings der Beitrag der russischen Historiker Natalja Selunskaja und Jurij Filippov über die regionalen Ergebnisse der zweiten Dumawahl.
Zu den Schwächen des wissenschaftlichen Bandes gehört das Fehlen eines einführenden Artikels über die ersten vier Legislaturperioden der Duma, ihre Entstehungsgeschichte, ihr Scheitern und ihre Bedeutung für die russische Geschichte. Demgegenüber finden sich hervorragende Beiträge über den britischen Parlamentarismus, die Polen im Deutschen Reichstag oder die Vertretung der Nationalitäten im Wiener Reichsrat.
Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass die 1906 gebildete erste Duma eine schwierige Wegstrecke vor sich hatte: Konkret bezog sich Max Weber auf den russischen Schein-Konstitutionalismus. Er sollte insofern Recht behalten, schreibt der Mainzer Historiker Jan Kusber, als die Verfassung nur den Beginn eines gesetzgeberischen Anpassungsprozesses an die gesellschaftliche Wirklichkeit im zaristischen Russland markierte. Viel Zeit blieb dem "bürgerlichen Parlamentarismus" nicht, bevor ihm am 5. Januar 1918 aufständische Matrosen mit dem Satz "Die Wache ist müde" den Garaus machten. Weniger prosaisch sprach Lenin von der "vollständigen und offenen Liquidierung der formalen Demokratie im Namen der revolutionären Diktatur".
Mit der Entmachtung der Sowjets (Räte) durch die Vereinigung von Legislative und Exekutive unter Führung der bolschewistischen Partei beginnt der renommierte Kölner Osteuropa-Historiker Gerhard Simon seinen glänzenden Artikel über die Entstehungsgeschichte der postkommunistischen Duma: Nach der 70-jährigen Ein-Parteien-Herrschaft, die den Staat in die Krise geführt habe, sei unter Michail Gorbatschow der Plan gereift, den Sowjets einen Teil der Kompetenzen der KPdSU zurückzugeben, um so ihre Herrschaft neu zu legitimieren und zu erhalten. Selbst der Dissident Andrej Sacharow habe damals "Alle macht den Sowjets!" gerufen, um die Herrschaft der KPdSU zu beenden.
Als Präsident Boris Jelzin nach dem Augustputsch 1991 die Kommunistische Partei verboten hatte, reklamierten die beiden parlamentarischen Institutionen, der Volkskongress und der Oberste Sowjet, alle Macht für sich. So wurde aus dem Mythos der Herrschaft der Sowjets plötzlich Realität, betont Simon. In den entscheidenden Wendejahren nach dem Zerfall der Sowjetunion schien es zunächst so, als ob das parlamentarische Regierungssystem die Parteidiktatur in Russland ersetzen würde. Stattdessen kam es jedoch zu einem erbitterten Konflikt zwischen Parlament und Präsident um die Suprematie im Staat.
Die Volksvertretung war nicht bereit, ein System der Checks and Balances zu etablieren und sich ihm unterzuordnen, sondern beanspruchte für sich die oberste Gewalt. "Es war eine tragische historische Situation", schreibt Simon. Denn zum ersten Mal bekam Russland zwar ein unabhängiges Parlament, aber es fehlten starke politische Parteien genauso wie eine politische Kultur des Kompromisses, die sich auf einen gewaltlosen und offenen Diskurs hätte verständigen können. Die Wirren der Umbruchzeit nutzend, löste Jelzin 1993 das Parlament schließlich gewaltsam auf. Er ging als "eindeutiger Sieger aus diesem Kampf hervor", befindet Simon, während sich der Parlamentarismus seitdem "in einem stetigen Niedergang" befindet.
Simon analysiert, warum die Parteien keine wichtige Rolle im politischen Leben Russlands einnehmen. So habe Jelzin die Etablierung starker Parteien verhindert, da sie über das Parlament die Macht des Präsidenten hätten beschränken können. Deshalb gründe die Exekutive regelmäßig so genannte "Parteien der Macht", die auch unter Jelzins Nachfolgern vor allem die Politik des Präsidenten in der Duma durchsetzen sollen.
Obwohl die Umfragen eine Akzeptanz des Präsidialsystems in breiten Schichten der Bevölkerung ergeben, macht sich in Russland eine starke Unzufriedenheit mit den staatlichen Institutionen breit. Für Simon ist dies der Beleg für die Kluft zwischen Regierenden und Regierten. Mehr noch: Dies zeige die geringe Legitimität des politischen Systems. Fast ein Drittel der russischen Wähler, die für die Demokratie eintreten, fühlten sich vom Parlament nicht angemessen vertreten.
Von Duma zu Duma. Hundert Jahre russischer Parlamentarismus.
V&R Unipress, Göttingen 2009; 442 S, 49,90 ¤