Politische Kultur
Axel Brüggemann entpuppt sich als Schwärmer mit zu viel Fantasie
Das waren noch Zeiten: CSU-Matador Franz-Josef Strauß beschimpfte Intellektuelle als "Ratten und Schmeißfliegen", SPD-"Zuchtonkel" Herbert Wehner machte den CDU-Politiker Jürgen Wohlrabe als "Übelkrähe" nieder. Heutzutage würden die Altmeister möglicherweise vor Gericht gestellt, wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte, wegen Überschreitens der Grenzen der Meinungsfreiheit. Seinerzeit gehörte deftige Polemik ganz selbstverständlich zum politischen Kampf. Strauß verlor jedoch diesen Clinch: Die bösen Intellektuellen, jedenfalls die meisten, agitierten gegen den Rabauken, was zu einem weithin schlechten Medienecho für den CSU-Häuptling führte und dazu beitrug, ihm in Bonn den Durchbruch zu vermasseln.
Von Kampfgetümmel ist inzwischen in Parlamenten nicht mehr viel zu spüren, Diskussionen locken kaum jemanden vor den Bildschirm. "Damals war der Bundestag noch kein Ort der Political Correctness", analysiert Axel Brüggemann in seinem Buch "Wir holen uns die Politik zurück!" zutreffend. Das Parlament sei ein "Pulsmesser der Nation" gewesen, "und der Puls war so extrem, dass einem heutige Debatten vorkommen wie das EKG eines Komapatienten".
Die blutleere Political Correctness als eine der Ursachen der Verdrossenheit, des Niedergangs der politischen Kultur, der sinkenden Wahlbeteiligung: Derart steuert Brüggemann durchaus Erhellendes bei zur Erklärung der grassierenden Missstimmung im Land. Ansonsten aber hat der Verfasser in seinem flott geschriebenen Buch nicht viel Originelles zu bieten: Die Distanz zwischen Politikbetrieb und Bürgern, das Umsichgreifen einer floskelhaften Talkshowsprache, die Angleichung der politischen Lager, der Einfluss der Lobbyisten, der Mitgliederschwund der Parteien, deren Selbstbedienungsmentalität via staatlicher Ko-Finanzierung, das intransparente Mitmischen von PR-Agenturen in der Entourage von Polit-Größen, die Austauschbarkeit des wenig kantigen Personals - über all das wird vielfach räsonniert. Die Formulierung von der "Generation blass mit Schlips" ist schmissig, beleuchtet freilich nichts Neues.
Vielleicht wurzelt die Misere ja nicht so sehr in der Selbstdarstellung des Politikbetriebs, sondern in der Politik selbst. Die Eingriffe in den Sozialstaat und die Tendenz zur Reglementierungs- und Überwachungsgesellschaft, um zwei Beispiele zu nennen, begannen unter Rot-Grün und setzten sich unter Schwarz-Rot fort. Wenn sich im Kern ohnehin nichts ändert: "Warum dann zur Urne marschieren?", mögen sich manche sagen.
Brüggemann geht es indes weniger um Inhalte, dafür mehr um das Procedere der Politik. Die Verbesserungsvorschläge des Journalisten muten freilich nicht sonderlich durchdacht an. Offenbar ließ er sich von der Begeisterung über die perfekt inszenierte Wahlkampagne Barack Obamas mitreißen. Freilich hat die vom Verfasser gelobte Direktwahl der Kandidaten fürs Weiße Haus ihre Schattenseite: Das große Spendengeld entscheidet wesentlich über den Erfolg. Volksabstimmungen nach Schweizer Muster haben zwar viel für sich: Doch Brüggemann übersieht, dass die Beteiligung bei eidgenössischen Referenden meist sehr niedrig ist.
Brüggemann plädiert für die Direktwahl von Abgeordneten, dieser Modus verfälscht aber den Wählerwillen insgesamt. Etwas Abenteuerliches hat auch die Forderung nach "Gewissensfreiheit in allen Bundestagsabstimmungen" an sich: Soll jede Regierung nach ein paar Wochen wieder stürzen? Und was soll man von der Idee halten, die Bürger sollten die Minister wählen? Ein All-Parteien-Kabinett, das wäre erst recht ein Einheitsbrei.
Des Autors Hit ist eine Web-Kampagne fürs Ungültigwählen. Ein solcher Protest lässt sich zwar politisch begründen. Brüggemann aber malt sich tatsächlich aus, dass dann die Politiker Buße tun und die perfekte Demokratie ausrufen. Spätestens hier entpuppt sich Brüggemann jedoch als Schwärmer mit zu viel Fantasie.
Wir holen uns die Politik zurück!
Eichborn Verlag,
Frankfurt/M 2009; 192 S., 14,95 ¤