AFGHANISTAN
Das Land wählt einen neuen Präsidenten. Favorit ist Amtsinhaber Karzai, doch der hat Vertrauen verspielt
Wer sich in Afghanistan den Wahlen stellt, riskiert sein Leben. Das weiß keiner besser als der amtierende Präsident Hamid Karzai, der sich am 20. August um eine neue Amtszeit bewirbt. Selten nur geht er auf Wahlkampftour, und wenn, dann wird er von einer Leibwache beschützt, die angeblich 600 Männer zählt. Das ist vielleicht ein mit der Absicht gestreutes Gerücht, den Präsidenten zu diskreditieren. Denn Karzais Leibwache wird von einer amerikanischen Sicherheitsfirma gestellt. Und was - so seine Gegner - ist das für ein afghanischer Präsident, der sich von Amerikaner beschützen lassen muss? Tatsächlich wird Karzai von einem Ring schwer bewaffneter Sicherheitskräfte umgeben, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigt. Ein paar Dutzend Männer sind es bestimmt, die ihm auf Schritt und Tritt folgen. Die Menschen dürfen ihm nicht zu nahe kommen. Die Szenen machen auf einen Schlag klar, welches eines der Hauptprobleme der Wahlen in Afghanistan ist: Die Sicherheit. In vielen Provinzen werden die Menschen nur mit erheblichem Risiko zu den Urnen gehen können - vor allem im Süden, wo die Taliban sich festgesetzt und einen zähen Krieg gegen die Regierung in Kabul begonnen haben. An der Wahlbeteiligung wird sich messen lassen, wie es steht im Kampf gegen die Taliban.
Klar ist, dass der Krieg nicht militärisch, sondern politisch gewonnen werden muss. Selbst die Generäle der inzwischen auf fast 100.000 Soldaten angewachsenen Interventionsarmee der Nato sagen dies in aller Öffentlichkeit. Nur wenn der Staat Afghanistan seinen Bürgern ein gewisses Maß an Schutz und eine Lebensperspektive bieten kann, nur dann sind die Taliban wirklich zu besiegen. Mit anderen Worten: Es braucht funktionierende Institutionen, es braucht eine effiziente Regierung, gut ausgebildete Polizei, eine starke Armee. Auch wenn Afghanistan von alledem heute weit entfernt ist, so sollen die Wahlen ein Schritt in diese Richtung sein. Sie sollen dem System Legitimität verschaffen. Das zumindest ist der Plan, die Wirklichkeit freilich ist diffiziler.
Es sind die zweiten Wahlen seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001, aber es sind die ersten, die ausschließlich unter der Regie der Afghanen stattfindet. Die internationale Gemeinschaft beschränkt sich, offiziell zumindest, auf eine wohlwollende Zuschauerrolle. Was sie zu sehen bekommt ist auf den ersten Blick ermunternd: 41 Kandidaten insgesamt, davon mindestens drei mit Aussichten auf Erfolg, nämlich Hamid Karzai, Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah. Die Kandidaten werben vor allem im Fernsehen für sich, die Städte sind gepflastert mit Wahlplakaten, ab und an treten die Kandidaten trotz Drohungen auch öffentlich auf, und da strömen die Menschen in Massen herbei. Die Afghanen also haben auf dem Papier scheinbar eine echte Wahl.
Hamid Karzai präsentiert sich wie der Vater der Nation. Wahlplakate in Kabul zeigen wie er Kinder herzt, auf anderen Postern erscheint er wie ein gütiger, weiser Patriarch. Obwohl er erst 52 Jahre ist, pflegt er dieses Image. Karzai ist 2001 auf der Bildfläche erschienen, von den Amerikanern aus dem Hut gezaubert. Die Taliban hatten Kabul über Nacht geräumt, doch die Bilder von ihrer grausamen Herrschaft blieben in lebendiger Erinnerung. Ihre spezifische Mischung aus Ignoranz und Brutalität grub sich tief in das kollektive Gedächtnis ein. Die Taliban waren zum Synonym für Afghanistan geworden, wild, unbeherrschbar, rückständig. Da tauchte in Gestalt von Hamid Karzai ein ganz anderes Afghanistan auf. Der Sohn einer Aristokratenfamilie spricht ein gepflegtes Englisch, ist weltoffen und hat ausgesucht feine Manieren. Das wirkte, vor allem nach außen. Im Westen war Karzai in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit ein Friedensheld. Mit einer Figur wie ihm an der Spitze konnte Afghanistan leichter die Unterstützung finden, die es brauchte. Es flossen die Milliarden - und sie fließen bis heute. Das freilich wirkte auch nach innen hin. Karzai war in den Augen vieler Afghanen der Mann, der Geld ins Land holte, der Mann, der sich mit dem Westen, besonders aber mit den Amerikanern gut stellte.
Dafür hassen ihn die Taliban, doch die meisten Afghanen wollen ihre Armut entrinnen und sie sahen mit Karzai eine Chance dafür. Warum sollten sie nicht einen Mann wählen, der die volle Unterstützung der reichsten Länder der Welt hatte? Fünf Jahre später aber hat Karzai viel von diesem Kredit verspielt - im Westen, und bei vielen Afghanen. Warum? Weil das Land immer tiefer in der Korruption versinkt, und weil die Taliban ihren Einfluss immer weiter ausdehnen. Im Bazar von Kabul ist längst schon wieder die Rede von der "Sauberkeit" der Taliban.
Niemand will sie wieder an der Regierung haben, doch jeder erinnert sich gerne daran, dass Reisende zu Zeiten ihrer Herrschaft von Kabul bis nach Kandahar und Herat fahren konnten, ohne etwas befürchten zu müssen. Heute hingegen kann man nicht einmal über die Stadtgrenze von Kabul hinaus, ohne um sein Leben bangen zu müssen. Derweil hält Karzai immer noch kluge Reden über die Demokratie und immer noch kann er sich eloquent über den Zusammenhang von Terror und Armut äußern, doch die Menschen glauben ihm nicht mehr. Seine Versprechen wirken hohl.
Dies hat Spielraum für anderen Kandidaten eröffnet. Chancen werden vor allem zwei Männern zugesprochen. Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani. Beide hatten in der Regierung Karzai Ministerposten inne. Ghani diente von 2004 bis 2006 als Finanzminister. Abdullah war von 2001 bis 2006 Außenminister gewesen. Beide haben also haben Erfahrung und gute Kontakte im Westen - vor allem Ghani. Als Finanzminister überwachte er die Einführung der neuen afghanischen Währung. Er erwarb sich dabei einen Ruf als kluger, umsichtiger Experte. Ghani hat an amerikanischen Universitäten studiert, und er ist, das ist vielleicht noch wichtiger, ein Paschtune, genauso wie Karzai. Bisher gilt in Afghanistan das ungeschriebene Gesetz, dass nur ein Paschtune, ein Angehöriger des Mehrheitsvolkes, das Land regieren kann.
Wie sehr dieses Gesetz immer noch gilt, zeigt sich schon an seinem Mitbewerber Abdullah Abdullah. Ihm werden allein deshalb keine Siegchancen eingeräumt, weil er als Tadschike wahrgenommen wird. Da hilft es ihm wenig, wenn er darauf verweist, dass seine Mutter eine Paschtunin war. Freilich ist die Wahrnehmung der Menschen nicht ganz falsch: Abdullah war während des afghanischen Bürgerkrieges eng mit dem tadschikischen Kriegsfürsten Schah Achmed Massud verbandelt. Diese Vergangenheit zählt in Afghanistan, vor allem weil sie noch lange nicht vergangen ist.
Die Kriegsherren von einst spielen nämlich eine entscheidende Rolle. Hamid Karzai zum Beispiel hat sich zwei berüchtigte Männer als Vizekandidaten ausgesucht, den Tadschiken "Marschall" Mohammad Fahim und den Hazara Karim Khalili. Beide haben eine blutige Vergangenheit. Auf viel befahrenen Straßen in Kabul sind sie nun auf Wahlplakaten abgebildet, links und rechts neben Karzai, blicken sie auf die Menschen herunter wie unantastbare Götter. Viele Afghanen fühlen sich zurückversetzt in die neunziger Jahre, als Männer wie diese beiden das Land in Schutt und Asche legten. Dass sich der "gütige Landesvater" ausgerechnet Zerstörer des Landes als Stellvertreter ausgesucht hat, mag überraschend, ja sogar schockierend sein, doch ist es das Resultat eines politischen Kalküls. Das Verhältnis Karzais zu den Amerikanern ist merklich abgekühlt. Washington hält ihn für verbraucht und scheint - mit gebotener Diskretion - Asrhaf Ghani zu unterstützen. Karzai ist sich dessen bewusst und versucht diesen Verlust zu kompensieren, in dem er auf die Kriegsherren zurückgreift und auf die Anhänger, die sie mobilisieren können.
Genau das ist eine der entscheidenden Fragen bei diesen Wahlen: Werden die Afghanen nach "ethnischen oder nach politischen Kriterien" entscheiden, wie es Aziz Rafie ausdrückt, der Vorsitzende des "Afghan Civil Society Forums". Werden also Paschtunen einen Paschtunen wählen oder brechen die Afghanen aus dieser Logik aus und wählen den Mann, dessen politisches Programm sie überzeugt, ganz unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit. Das wäre ein Schritt voran, doch werden ihn die Afghanen nur machen können, wenn sie dem Staat auch vertrauen. Denn die "ethnische Karte" stach bisher auch deshalb immer, weil die Kriegsherren bewaffnet waren. Volksgruppe plus Kalaschnikow ist gleich Macht. Das ist eine fatale afghanische Kombination.
Doch selbst wenn eine Mehrheit der Afghanen aus dieser Logik ausbrechen möchte, so wird es ihnen nicht leicht, ja vielleicht sogar unmöglich gemacht. Es gibt inzwischen sehr glaubwürdige Berichte von Nicht-Regierungsorganisationen, dass es bei der Registrierung der Wähler zu schweren Manipulationen gekommen ist. Insgesamt sollen schätzungsweise 3 Millionen Wähler zu viel registriert worden sein. Die Verstöße wurden an die "Independent Election Commission of Afghanistan" gemeldet - doch die stellt sich taub. Sie wird von Männern Karzais dominiert.
In Kabul gehen alle davon aus, dass Karzai die Wahl gewinnen wird, und dass es dabei nicht ganz mit rechten Dingen zugehen wird. Die entscheidende Frage wird sein, wie schwer die Manipulationen sein werden; und ob die unterlegenen Gegenkandidaten gegen einen Sieg Karzais mit dem Aufruf zu Demonstrationen reagieren werden. Das wäre dann ein iranisches Szenario - nur, dass der Westen diesmal auf der falschen Seite stünde.