Montag, 9. Oktober 1989: In Leipzig gehen, wie seit Anfang September jeden Montag, die Menschen nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche hinaus auf den Ring. Waren es anfangs nur ein haar Hundert, so sind es an diesem Tag rund 70.000. Sie tragen Kerzen in der Hand und rufen: "Wir sind das Volk" - die Antwort auf die SED-Propaganda: "Alles für das Wohl des Volkes!"
Pfarrer Christian Führer von der Nikolaikirche hatte anonym erfahren, dass harte Maßnahmen zu erwarten seien. Krankenhäuser machten Betten frei, stellten Blutkonserven bereit. Öffentlich wurde angekündigt: "Die konterrevolutionären Aktionen werden beendet, wenn es sein muss, mit der Waffe." 8.000 Polizisten, Stasi-Leute und Soldaten sind da, doch sie greifen nicht ein. Befehle aus Berlin bleiben aus.
Damit stellt dieser 9. Oktober den Wendepunkt dar, denn von da an setzte die SED, die Sozialistische Einheitspartei, die Signale auf "Dialog". Die ARD-Tagesthemen senden Bilder vom Vorabend aus Leipzig. Moderator Hanns Joachim Friedrichs sagt: "Ein italienisches Fernsehteam, das Filmaufnahmen in Leipzig macht, stellte uns die Bilder zur Verfügung." Dabei verschweigt er, dass zwei Oppositionelle in der DDR gefilmt hatten.
Gut eine Woche zuvor, am 30. September, hatte die DDR die Ausreise ihrer Bürger akzeptiert, die in den Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Budapest Zuflucht gesucht hatten. In Prag hatte der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der Botschaft den Flüchtlingen zugerufen: "Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Weiter kam er nicht, denn seine Zuhörer brachen in hellen Jubel aus.
Bedingung für die Ausreise ist: Die Züge müssen durch die DDR. Die SED will wissen, wer geht. Bangen Herzens steigen die Menschen in Prag ein. Tausende fahren in der DDR nach Dresden, um in die Züge zu kommen. Aufruhr in Dresden: Die Polizei drängt die Menschen ab, es gibt Tumulte und Schlägereien.
In einer Meldung der DDR-Nachrichtenagentur ADN heißt es: "Sie haben sich selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Es ist ihnen keine Träne nachzuweinen." Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker selbst hatte den letzten Satz in die Meldung eingefügt.
Am Freitag, 6. Oktober, beschließt die Polizei, den Ausreisewilligen Papiere zu geben. Viele gehen, doch die Dresdener machen weiter. Am Sonntagabend bestimmen auf der Prager Straße eingekesselte Demonstranten 20 Leute, die mit SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer sprechen sollen.
Die "Gruppe der 20" gibt Forderungen aus dem Kessel weiter: Pressefreiheit, Wahlfreiheit, Recht auf friedliche Demonstration, Reisefreiheit, Freilassung Inhaftierter, Dialog und Zulassung des Neuen Forums. Berghofer akzeptiert. Die Einigung wird am 9. Oktober in vier Kirchen mehr als 20.000 Zuhörern mitgeteilt.
Am Samstag, 7. Oktober, feiert die DDR ihren 40. Geburtstag mit Fackelzug der Staatsjugend und Rufen "Unsere DDR lebe hoch", mit Militärparade und festlichem Bankett im Palast der Republik. Während dort gefeiert wird, werden auf den Straßen Tausende Demonstranten geschlagen und festgenommen.
Staatsgast Michail Gorbatschow, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, führt Gespräche mit der DDR-Spitze, steht bei Kundgebungen höflich nickend neben dem umtriebigen Honecker. Was Gorbatschow der DDR-Führung sagt, fasst sein Sprecher so zusammen: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!"
Zwei Tage nach der Montagsdemonstration, am 11. Oktober, heißt es in einer Erklärung des Politbüros der SED: "Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektiven für alle." Freundliche Worte auch für die Ausgereisten: "Sie hatten eine Heimat, die sie brauchte und die sie selbst brauchen."
Auf diese Erklärung folgt eine Woche später der zweite Schritt: Erich Honecker wird nach 18 Jahren als Generalsekretär der SED abgelöst. Sein Nachfolger wird Egon Krenz, der eine "Wende" verspricht.
Am Samstag, 4. November, veranstalten die Künstlerverbände eine Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz, bei der fast eine Million Menschen mit Transparenten und Spruchbändern zusammenkommen. Die Organisatoren kleben an die weiße Front der Volkskammer zwei Worte: "Freie Wahlen".
Der Schriftsteller Stefan Heym sagte, es sei, als habe einer "die Fenster aufgestoßen nach Jahren der geistigen, wirtschaftlichen und politischen Stagnation, nach Dumpfheit und Mief, Phrasengewäsch, bürokratischer Willkür und Blindheit." Fünf Tage später gingen die Türen auf (aus: "20 Jahre friedliche Revolution", blickpunkt bundestag Spezial, Oktober 2009).