Herr Schirrmacher, die Gesellschaft hat offenbar ein Problem mit der Rolle der Frauen: Entscheiden sie sich gegen Kinder, sind sie Karrierefrauen, entscheiden sie sich nur für ihre Mutterrolle, gelten sie als rückständig, gehen sie trotz Kindern arbeiten, sind sie Rabenmütter.
Solche Rollenzuweisungen sind Schnee von gestern, wenn man sich anschaut, in welchem gesellschaftlichen Zustand wir uns bereits befinden. Wir werden in Zukunft einen weiteren dramatischen Einbruch der Geburtenraten haben. Und der hat überhaupt nichts mehr damit zu tun, ob Frauen Kinder haben wollen oder nicht, sondern damit, dass die Eltern, die diese Kinder auf die Welt bringen müssten, nicht da sind, weil diese auch nicht geboren worden sind. Da haben Prozesse eingesetzt, die sich rein demografisch nicht mehr aufhalten lassen. Es wird überhaupt keine Alternative zur Berufstätigkeit von Frauen geben! Diese Gesellschaft wird die Frauen noch anbetteln: Seid doch bitte berufstätig! Und Unternehmen, die den Frauen keine ausreichenden Angebote hinsichtlich Kinderbetreuung und flexibler Arbeitszeiten machen, werden es schwer haben, sie als Arbeitskräfte zu gewinnen.
Frauen fungieren in Ihrem Buch "Minimum" als Retterinnen in einer gesellschaftlichen Krisensituation: als jene, die die sozialen Netzwerke am Laufen halten, aber auch auf einem Arbeitsmarkt, der auf die soziale Kompetenz von Frauen angewiesen sein wird. Warum dürfen sie erst ans Ruder, wenn es fünf vor zwölf ist?
Darum geht es nicht. Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern es geht um eine völlige Veränderung der Grundstrukturen der Gesellschaft: Die demografische Entwicklung wird zu einem rein quantitativen Übergewicht der Frauen führen, allein durch die längere Lebenserwartung. Schon heute verändern sich die Gesetze des Marktes in diese Richtung: Wenn sie zum Beispiel im Printbereich nicht darauf Rücksicht nehmen, dass die Leser Frauen sind, haben Sie schon verloren. Es ist gut, dass wir in diesen wirtschaftlichen Druck geraten werden und niemand mehr auf Frauen verzichten kann. Solche rationalen Zwänge bewirken mehr als moralische Debatten.
Bei Angela Merkel lief es so: Sie bekam ihre Chance während einer der größten Krisen der CDU. Nun hat sie bewiesen, dass sie einen anderen Anspruch hat als den, Lückenfüllerin gewesen zu sein.
Mit so einem Denken werden Männer künftig auch nicht weit kommen. Das Spiel ist längst entschieden: Die Frauen werden diese Gesellschaft wirtschaftlich bestimmen, sie werden sie aber auch gesellschaftlich bestimmen. Und sagen Sie jetzt bitte nicht, ich hätte Angst davor. Ich beschreibe, was kommt und empfinde das eher als gesellschaftliches Abenteuer. Es wird, so meine Hoffnung, eine zweite Aufklärung geben, in der auch die Debatten von gestern endlich erledigt sein werden. Jetzt ist nur die Frage, was daraus wird. Das kann ich nicht sagen.
Frauen sind in der Lage "universale Funktionen beider Geschlechter zu übernehmen", schreiben Sie. Ich hatte den Eindruck, dass Sie den Männern dasselbe nicht abverlangen. Welche Rolle spielen sie denn in diesem Spiel?
Männer werden, wie Jürgen Habermas es formuliert, eine "nachholende Revolution" durchleben müssen. Sie werden sich nicht grundsätzlich verändern, es wird immer Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern geben. Aber in der Frage der Bereitschaft, Zuwendung zu geben, sich zum Beispiel um die Eltern zu kümmern, müssen sie sich verändern. Der helfende Mann wird ein sehr normales Phänomen sein. Und das wird sehr schwer für viele Männer sein, keine Frage.
Ich denke, dass man die Lernfähigkeit da auch nicht unterschätzen sollte.
Widerspricht das nicht Ihrer Deutung, dass es die Natur, also die Biologie, sei, die uns eindeutige Rollen zuweise?
Ja, aber ich sage auch so oft es nur geht: Biologie ist kein Schicksal. Dafür gibt es ja Kultur und soziale Evolution. Ich betone die Biologie um, klarzumachen, dass hier kodierte Verhaltensweisen existieren, die irgendwie noch bei uns überdauern. Aber die sind nicht Schicksal. Es ist jetzt unsere Aufgabe, das zu erkennen und zu nutzen. Um es mal ganz platt zu sagen: Die typischen männlichen Eigenschaften der Stärke, der Risikobereitschaft, waren notwendig in einer Gesellschaft, die in Kriege zog.
Diese Qualitäten sind heute aber nicht mehr so nötig. Jetzt muss die Gesellschaft umlernen, und da haben Frauen einen riesigen Vorteil.
Es fällt auf, dass Kinderlosigkeit in den aktuellen Diskussionen vor allem als Frauen- oder Akademikerinnenproblem dargestellt wird. Bekanntlich gehören zwei dazu.
Warum haben heute viele Menschen nur noch ein Kind? Nicht, weil sie Egomanen sind. Sondern, weil sie sehr klug überlegen: Wie kann ich die besten Voraussetzungen dafür schaffen, in dieser Welt zu reüssieren? Und dann kommen sie auf die Idee, das schaffe ich nur noch mit einem Kind. So würde ich die Debatte eher führen. Wir müssen da grundsätzlich über die Lebensläufe neu nachdenken. Wenn eine 30-jährige Frau, die da ja Entscheidungen treffen muss, bereits weiß, dass sie mit 40 Jahren auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr hat, dann wird sie ihre Entscheidung anders treffen. Da liegt die Verantwortung der Gesellschaft. Der Staat kann nicht erwarten, dass eine umfassende Kinderbetreuung die Geburtenraten steigert. Aber er muss sie anbieten. Und zwar rund um die Uhr, so wie es in Schweden schon praktiziert wird. Wenn die Leute die absolute Sicherheit hätten, sie könnten nicht nur mit 40 wieder da weiter machen, wo sie aufgehört haben, sondern sie können auch ganz neu anfangen: Da werden sie viel entspannter.
Viele Frauen, und da hat Eva Herman mit ihrem Befund recht, fühlen sich zerrissen zwischen dem Anspruch, gleichzeitig eine tolle Mutter und im Beruf erfolgreich zu sein. Ihre rückwärtsgewandte Lösung lautet aber: Frauen sollten sich wieder auf ihre Bestimmung in der Familie, an der Seite ihres Mannes, konzentrieren. Was unterscheidet Ihr Plädoyer für die Familie mit der Frau als Fixpunkt von den Ideen Eva Hermanns?
Das Konzept von Frau Herman ist nicht mein Konzept. Ich habe auch kein Plädoyer für die traditionelle Familie gehalten. Was ich zeigen will, ist, dass hinter unserer gesamten Sozialisation eine Struktur lag wie die Familienstruktur. Und die beschreibe ich als eine, die Menschen auch in größter Not hilft. Ich sage lediglich: Diese Struktur ist jetzt auf einem Minimum angekommen. Damit meine ich nicht, dass wir dahin zurück müssen. Aber wir müssen erkennen: Hier ist ein Vakuum entstanden, das viel größer ist, als wir denken. Der Staat sagte ja lange: Ich bin die Familie. Ich kümmere mich um alles. Jetzt kann er das nicht mehr finanzieren und verweist die Leute zurück in die Familie, die aber gar nicht mehr existiert. Was folgt daraus? Das ist uns noch gar nicht klar. Und darum spielen ja die Frauen so eine Rolle, weil sie es schaffen können, jedenfalls in einer Übergangsweise, neue soziale Netzwerke zu bilden.
Das "Eva-Prinzip" ist auch eine Abrechnung mit der feministischen Bewegung der 70er-Jahre. Sie hätte den Frauen viel genommen und ihnen nur eines gegeben: die Nachahmung männlicher Rollen, mit denen die nun unglücklich seien. Ist Frau Herman undankbar?
Ich glaube, dass es eine ziemlich banale Aussage ist, die sie da trifft. Gleichzeitig ist sie unglaublich anachronistisch, weil das gar nicht mehr die Frage ist. Auch die Männer der Gesellschaft, in der wir heute leben, sind zutiefst verunsichert. Das, was die Geschlechter verbindet und belastet und in einer wirklichen Tragik vereint, ist die falsche Bewirtschaftung von Lebenszeit. Dort wo man beginnt umzudenken, wo die zehn Jahre zwischen 25 und 35 nicht das letzte Wort sind, entsteht, es ist faszinierend das zu sehen, eine wirkliche Befreiung des Menschen von selbstauferlegten Fesseln.