Frau Beck-Gernsheim, in allen hoch industrialisierten Ländern werden weit weniger Kinder geboren als noch vor 50 Jahren. Sind wir mit dem Fortschritt in eine Fortpflanzungsfalle getappt?
Ich würde das anders formulieren: Nicht der Fortschritt an sich hat uns in diese Situation gebracht. Der Geburtenrückgang hat vielmehr mit der Gestaltung dieses Fortschritts in den industrialisierten Ländern tun. Zum Beispiel haben wir mit der Rentenversicherung eine staatliche Alterssicherung geschaffen. Ein historischer Fortschritt! Nur hat der auch dazu geführt, dass wir Kinder als direkte Alterssicherung nicht mehr brauchen. Sie sind nicht mehr länger ein ökonomisches Plus für die Familien, sondern ein ökonomisches Minus. Kinder zu haben, ist teuer geworden.
Auch die Arbeitswelt hat sich verändert. Wie sollen sich Frauen bei den Erwartungen, die im Berufsleben gestellt werden, noch frohen Mutes für ein Kind entscheiden?
Das ist ein großes Problem. Wer heute seine Ausbildung abschließt, bekommt noch lange nicht automatisch einen Arbeitsplatz. Wer einen Arbeitsplatz hat, behält ihn heute kaum ein Leben lang. Dazu kommen hohe Erwartungen an Mobilität und Flexibilität Es wird vorausgesetzt, dass man auch an Wochenenden arbeitet oder lange in den Abendstunden. Wie soll man da noch Verantwortung für ein Kind übernehmen? Kinder brauchen andauernde und verlässliche Zuwendung. Man kann sie nicht einfach ins Tiefkühlfach legen, weil man gerade zum Wochenendseminar muss, und sie dann am Sonntagabend wieder auftauen.
"Mütter sind heute mit einer unmöglichen Aufgabe betraut", schreiben Sie daher in Ihrem Buch. Ist es tatsächlich so schlimm?
Ja, denn an sie werden Anforderungen gestellt, die man gleichzeitig gar nicht erfüllen kann. Es ist nicht möglich, einerseits voll für den Arbeitsmarkt verfügbar zu sein und andererseits allgegenwärtig für das Kind da zu sein. Diesen Widerspruch kann keiner auflösen.
Damit sind Sie in gewissem Sinn einer Meinung mit Eva Herman. Sie sagt: "Der Spagat zwischen Privatleben und Karriere ist ein Extremsport, der uns (Frauen) aufreibt, statt uns zu beflügeln."
Damit hat sie auch Recht. Nur zieht sie daraus andere Schlüsse als ich. Sie sagt: Hören wir auf mit dem Spagat. Ich sage: Wir müssen an den Bedingungen etwas ändern.
Und wie?
Dass es geht, können wir am Beispiel Frankreich sehen. Dort liegen die Geburtenzahlen deutlich höher als in Deutschland, und im letzten Jahr sind sie noch einmal gestiegen: Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten wurden wieder durchschnittlich zwei Kinder pro Frau geboren (2.07) - das ist ein Wert, der fast ausreicht, um den Bestand der Bevölkerung zu erhalten. Dieser Geburtenrekord ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat einen sehr irdischen Hintergrund: großzügige sozialpolitische Maßnahmen.
Welche sind das konkret?
Zum Beispiel hohe Steuererleichterungen für Familien, die im Haushalt eine Person für die Kinderbetreuung beschäftigen; eine Geburtenprämie von 800 Euro bis zu einem bestimmten Einkommen; und ein einjähriges Elterngeld von 750 Euro pro Monat. Außerdem, und das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Es gibt ganztägige Vorschulbetreuung vom dritten Lebensjahr an - und zwar kostenlos! In Deutschland dagegen sind Frauen immer noch mit einem Erwartungsdruck konfrontiert, der als ewiges Naturgesetz behauptet: Die Mutter gehört zum Kind. Wer es da wagt, nicht rund um die Uhr nur fürs Kind da zu sein, ist schnell dem Rabenmuttervorwurf ausgesetzt: "Fremdbetreuung" heißt das dann - schon das Wort klingt abstoßend, wie Kindesvernachlässigung oder Verwahrlosung.
Sie sagen, in Deutschland werde ein regelrechter "Muttermythos" heraufbeschworen. Was kritisieren Sie daran?
In der bäuerlichen Gesellschaft, wie sie vor dem Industriezeitalter bestand, konnten die Familien es sich gar nicht leisten, dass die Mutter sich 24 Stunden lang nur um die Kinder kümmert. Sie war eine vollwertige Arbeitskraft, die auf dem Feld gebraucht wurde, die das Vieh versorgen, kochen und häufig auch die Produkte der Landwirtschaft auf dem Markt verkaufen musste. Die Kinder liefen dabei so mit, sie wurden mal von der Mutter, mal von der Großmutter, oder von der Magd und älteren Geschwistern versorgt. Ganz krass gesagt: Entweder die Kinder haben das überlebt oder nicht. Natürlich will ich das nicht als Idealzustand bezeichnen - aber den Muttermythos, wie wir ihn heute in Deutschland haben, hat es früher nicht gegeben. Und dieser Muttermythos ist eine entscheidende Ursache für den starken Geburtenrückgang, den wir heute erleben.
Inwiefern?
Zum einen werden die Frauen dadurch enorm verunsichert. Zum anderen werden damit immer wieder Versuche abgebremst, wenn nicht gar blockiert, auf der politischen Ebene gezielt Voraussetzungen für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu schaffen. Meine Botschaft an die Verfechter des Muttermythos ist deshalb: Ihr schafft mit Eurer Argumentation genau das, was man in der Wissenschaft "nicht intendierte Folgen" nennt - nämlich das Gegenteil von dem, was Ihr eigentlich wollt.
Das werden konservative Stimmen wie Frank Schirrmacher oder Eva Herman nicht gerne hören…
Sicher nicht. Aber, um bei Eva Herman zu bleiben: Die Frauen der jüngeren Generation lesen sie ohnehin mit einer Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit. Und meine eigene Mutter - sie ist 86 Jahre alt -reagierte richtig empört. Ihr spontaner Kommentar: "So einen Quatsch hätte nicht mal meine Großmutter gesagt. Die war damals schon emanzipierter!"
Emanzipation ist ein gutes Stichwort. Herman und Co. machen ja nicht zuletzt auch den Feminismus für den Geburtenrückgang verantwortlich.
Das ist viel zu kurz gegriffen. Es geht doch darum, zu überlegen, wie man diese neuen Möglichkeiten der Frauen gesellschaftlich gestalten kann. Die Bildungsexpansion hat dazu geführt, dass Frauen heute eine weitaus stärkere Berufsmotivation haben als frühere Generationen. Sie wollen berufstätig sein und ihren Beruf weiter ausüben, auch wenn sie Kinder bekommen.
Und da geht es im Übrigen nicht nur ums Wollen - es geht auch ums Müssen: Unser Rechtssystem erwartet von Frauen, dass sie ihren Lebensunterhalt im Beruf selbst verdienen. Das ist eine gesellschaftliche Verpflichtung geworden. Sie können nicht einfach zum Sozialamt gehen und sagen: "Ich bin eine Frau, also möchte ich jetzt Sozialhilfe haben." Die würden nur zur Tür weisen und antworten: "Junge Frau, da drüben ist das Arbeitsamt."
Trotzdem wird Frauen, die berufstätig sind und sich gegen Kinder entscheiden, oft vorgeworfen, sie seien egoistisch…
Man hat es hierzulande tatsächlich geschafft, den Frauen ein schlechtes Gewissen einzureden. Egal, was sie machen, es ist immer falsch. Und der Egoismus-Vorwurf trifft im Übrigen immer nur Frauen, nie die Männer. Von Männern erwartet man ganz selbstverständlich, dass sie arbeiten, das ist überhaupt kein Thema.
Es scheint, als habe die Emanzipation den Frauen nicht nur neue Freiheiten gebracht, sondern zugleich auch neue Zwänge. Teilen Sie diesen Befund?
Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Ein Beispiel ist die Pille. Sie hat uns Frauen die dauernde Angst vor der Schwangerschaft genommen, was eine unbestreitbare historische Errungenschaft ist. Gleichzeitig ist aber auch der Erwartungsdruck auf junge Frauen gestiegen. Sie sollen plötzlich vorausschauend planen, den "richtigen Zeitpunkt" zum Kinderkriegen abpassen. Wenn sie dann schwanger werden, heißt es oft in den Betrieben: "Selber schuld, dann brauchen Sie sich nicht beklagen, wenn wir Ihnen den Aufstieg auf der Karriereleiter nicht bieten können." Frauen geraten so in eine Planungsfalle. Sie werden immer älter, bevor sie das erste - und meist letzte - Kind bekommen.
Mit zunehmendem Alter nehmen außerdem die Risikoschwangerschaften zu. Viele Frauen haben Probleme, überhaupt noch schwanger zu werden. Diese Entwicklung mag ein Segen für die Reproduktionsmedizin sein, für die Frauen ist sie es nicht.