Als Yolanda Cáceres das
Grundstück sah, war ihr klar: Beste Wohnlage war was anderes.
Überall lag Müll. Es gab keinen Anschluss an die
Kanalisation. Die schmalen Straßen waren nicht geteert, und
wie die 49-Jährige bald merkte, verwandelten sie sich, wenn es
regnete, in einen Sumpf.
Yolandas Mann hatte schon alles für das
neue Zuhause vorbereitet: Die Wände aus Holzbrettern. Ein Dach
aus Wellblech. Sie waren vom Land nach Buenos Aires gekommen, weil
es hier Arbeit für Yolandas Mann geben sollte. Die gab es
nicht.
Also bauten sie einen Lehmofen, in dem
Yolanda Brot backte und verkaufte. Es lief gar nicht schlecht an.
Doch sie hatten nicht mit den Zugschienen hinter dem Haus
gerechnet: Der Güterzug ließ den Boden vibrieren. So
stark, dass der Lehmofen Risse bekam und in sich zusammenfiel. Die
Cáceres und ihre fünf Kinder waren ratlos.
"Und dann kamen die Mädchen und gaben
mir einen Zettel: Kleinkredite für Frauen", sagt Yolanda. Sie
trägt ein gestreiftes Baumwollkleid mit Spaghettiträgern.
Die halblangen, dunklen Haare hat sie locker zu einem Zopf
gebunden. "Die Mädchen", das waren Freiwillige des "Proyecto
Sur", einem Mikrokreditprogramm finanziert von der Fundación
Temas. Der Zettel war eine Einladung in die Suppenküche, die
die Fundación Temas samstags morgens zur Beratungsstelle
für Kleinunternehmerinnen umfunktioniert. "Man musste nur hier
im Viertel wohnen und über 18 sein, dann kam man für
einen Kredit in Frage", sagt Yolanda. "Ich brauchte Geld für
einen richtigen Ofen aus Stein."
Das Team des Proyecto Sur fährt jeden
Samstag in die Villa 21. Etwa 30.000 bis 35.000 Menschen leben in
dem Armenviertel, genaue Zahlen gibt es nicht. Es liegt am durch
Chemikalien verschmutzten, faulig stinkenden Fluss Riachuelo, in
der Nachbarschaft zur Petroindustrie. Die meisten im Viertel sind
arbeitslos, viele leben davon, Abfälle zu sammeln und zu
verkaufen.
Das Mikrokreditprogramm in der Villa 21 gibt
es seit zwei Jahren; es funktioniert im Sinne von Muhammad Yunus,
der 2006 den Friedensnobelpreis gewonnen hat: Projektbezogene
Kredite für die, denen normalerweise keine Bank Geld geben
würde. "Wir prüfen, ob die Geschäftsideen Chancen
haben. Aber die Frauen müssen nicht wie bei einer Bank
Sicherheiten mitbringen", sagt Paz Ochoteco von der
Fundación Temas. 67 Kredite hat die Stiftung bisher
bewilligt.
Im Vergleich zu anderen
Mikrokredit-Programmen ist der Zinssatz im Proyecto Sur niedrig, er
liegt bei 15 Prozent. 48 Wochen lang zahlen die Frauen den Kredit
in kleinen Raten zurück. Die Rückzahlquote ist hoch:
Bisher sind 94 Prozent der Gelder zurückgekommen.
Warum die Kredite nur an Frauen gehen? "Weil
die besser mit Geld umgehen und zuverlässiger
zurückzahlen", sagt Ochoteco. "Sie setzen das Geld
intelligenter ein, haben im Blick, was die Familie wirklich
braucht. Ein Mann kauft vielleicht schon ein Motorrad, wenn den
Kindern noch die Schuhe fehlen."
Wie alle Frauen kam auch Yolanda an einem
Samstag in die Suppenküche. Der Bewerbungsprozess ist
gestaffelt: Beim ersten Treffen erklären die Helfer, wie das
Programm funktioniert. Ab dem zweiten Treffen erarbeiten sie mit
der Bewerberin das Geschäftskonzept: Welche Produkte stellt
sie her? Gibt es schon jemanden im Viertel, der so was macht? Wie
hoch ist die Gewinnspanne? Wie hoch soll der Kredit sein?
"Ob ein Kredit bewilligt wird, entscheiden
nicht wir", sagt Ochoteco. "Weil wir die Frauen persönlich
kennen, sind wir nicht mehr objektiv." Die Umweltwissenschaftlerin
und ihre Kolleginnen präsentieren die Kreditanträge einer
Expertenkommission aus Frauen. Wird der Kredit bewilligt, muss die
Frau mit anderen zusammen eine Fünfergruppe bilden. Erst dann
wird das Geld ausgezahlt und die wöchentlichen Gruppentreffen
beginnen. Die Gruppen bilden die Frauen selbst: "Wie wollen nicht
vorgeben, wer wen sympathisch finden soll", sagt Ochoteco. "Durch
den persönlichen Bezug fühlen die Frauen sich
verpflichtet, das Geld zurückzuzahlen. Damit eine andere Frau
es als Kredit bekommen kann." Außerdem sollen die Frauen
Freundinnen finden, mit denen sie jeden Samstag über ihre
Probleme und Erfolge sprechen können.
Das Leben der Menschen in der Villa 21 sei
von Unsicherheit geprägt: "Die Menschen hier wissen nicht, ob
sie morgen etwas zu essen haben. Ob vielleicht jemand anderes ihr
Haus besetzt, während sie Arbeit suchen. Ob das Haus oder die
Hütte dem nächsten Regen, dem nächsten Sturm, dem
nächsten Hagel standhält. Dann fangen sie wieder bei null
an", sagt Ochoteco. "Deshalb wollen wir, dass sie wissen: Samstags
sind wir für sie da. Immer."
Unter den Frauen, die sich heute in der
Suppenküche treffen, sticht eine heraus: Sie hat dunkle Haare,
einen Pferdeschwanz und trägt als einzige ein T-Shirt, auf dem
Proyecto Sur steht und auf dem Rücken "Olguita, unsere Nummer
1".
"Ich war die erste, die einen Mikrokredit
bekommen hat", sagt Olga Nilda Lencina, 45, und lächelt. Sie
kaufte sich von dem Geld eine Nähmaschine. "Komm, ich zeig sie
dir!" Vorsichtig sucht sie mit den Füßen den festen
Boden zwischen den Pfützen. "Ich habe kein Haus, es ist eine
Hütte", sagt sie entschuldigend, bevor sie die Gittertür
öffnet, die der Eingang der Holzhütte ist. "Von dem Geld,
das ich im vergangenen Jahr verdient habe, haben wir einen
Zementboden gießen lassen. Aber durch das Wellblech regnet es
rein", sagt Olga. Die Nähmaschine steht in einer regensicheren
Ecke, mit einem Tuch vor Staub geschützt. Es ist ein guter Tag
für sie, morgens um halb acht klopfte schon jemand und
bestellte drei Hosen. Olga hat fünf Kinder und ist als
alleinerziehende Mutter die einzige in der Familie, die Geld
verdient - rund 100 Pesos, das sind 25 Euro, in der Woche. Weit
weniger als das Mindesteinkommen von 200 Euro, die eine Familie in
Argentinien laut Statistik zum Überleben braucht.
Weil es in der Nacht stark geregnet hat, ist
in Yolandas Gruppe außer ihr nur Patricia zum Gruppentreffen
gekommen. Sie hat von ihrem Kredit Thermoskannen, Plastikbecher und
einen zweirädrigen Wagen gekauft. Die 38-Jährige will am
Busbahnhof Kaffee verkaufen. Patricias und Yolandas Gruppe wird von
Valentina Dotti koordiniert. Die 25-Jährige arbeitet sonst in
der Pressestelle von Pflanzenschutzmittel- und Saatguthersteller
Monsanto.
Die drei sitzen am Esstisch in Yolandas
Hütte und trinken Mate-Tee. Der Boden ist aus Lehm, die
ursprüngliche Farbe des einzigen Sessels im Raum ist kaum zu
erahnen. In der Ecke stehen ein Fernseher und ein DVD-Player, am
Boden liegt ein kaputter Ventilator. "Hoffentlich klappt alles",
sagt Yolanda. "Wir helfen dir", sagt Vale. "Vielleicht kann ich
einen Kontakt zu Restaurants herstellen. Dann hättest du
regelmäßige Abnehmer für das Brot." Yolanda
lächelt. Draußen arbeitet ihr Mann bereits an dem neuen
Ofen.
"Für mich ist das Kreditprogramm mehr
als nur Geld", sagt Yolanda. "Jeden Samstag siehst du Menschen, die
nett zu dir sind. Und ich traue mich wieder, von einer besseren
Zukunft zu träumen."
Die Autorin ist Korrespondentin der "Weltreporter" in Buenos
Aires, Argentinien.
STICHWORT
ARGENTINIEN - Frauen in Arbeit
- Ausbildung Gut die Hälfte aller Frauen
besuchte 2006 eine weiterführende Schule, aber nur 25,7
Prozent machten einen Universitätsabschluss.
- Arbeitsmarkt Die Arbeitslosenquote von Frauen betrug 2006 12,3
Prozent und lag damit knapp über dem Durchschnitt von 10,2
Prozent.
- Nur 9,3 Prozent der Argentinierinnen finden sich in
Führungspositionen. Knapp 32 Prozent leisten aber
Anlerntätigkeiten, etwa 40 Prozent sind einfache Angestellte
und Arbeiterinnen.