Annemarie Renger
Beinamen hat Annemarie Renger im Laufe ihres Lebens viele
bekommen. Als "Grande Dame" wird sie heute oft bezeichnet, auch als
"First Lady der SPD" - Attribute, die von Respekt rühren
für eine über alle Parteigrenzen hinweg geschätzte
Politikerin. In den Fünfzigern, als die Arbeitertochter und
junge Sozialdemokratin anfing, Politik zu machen, war das etwas
anders: Da wurde Renger von ihren fast ausschließlich
männlichen Kollegen in Bonn gerne lax als "Miss Bundestag"
tituliert - die elegante Mittdreißigerin fiel auf zwischen
den zahlreichen älteren Herren in dunklen Einreihern.
Aufgefallen war sie zuvor auch Kurt
Schumacher, dem ersten Vorsitzenden der SPD. Renger hatte ihm,
fasziniert von einer Rede des Politikers über den
demokratischen Neuaufbau des Landes, im Mai 1945 einen Brief
geschrieben. Sie wollte für ihn arbeiten - und hatte Erfolg:
Im Oktober 1945 wird die 1919 in Leipzig geborene Renger
Schumachers Sekretärin. Der erkennt ihr Talent, macht sie zu
seiner engsten Mitarbeiterin und Vertrauten.
Nach Schumachers Tod geht sie aktiv in die
Politik. 1953 wird sie in den Bundestag gewählt und steigt
dort bis zur Parlamentarischen Geschäftsführerin der SPD
auf - als erste Frau überhaupt. Der größte Coup
gelingt ihr 1972: Da wird Renger Präsidentin des Hohen Hauses.
Eine Sozialdemokratin und Frau im zweithöchsten Amt der
Republik - eine Revolution zu dieser Zeit. In ihrer Antrittsrede
bringt sie die Herren im Plenum zur Raison: "Die Wahl einer Frau
für dieses Amt", sagt sie, "hat verständlicherweise
einiges Aufsehen erregt. Das Erstmalige und mithin Ungewohnte
gerät in die Gefahr, zum Einmaligen und Besonderen erhoben zu
werden." Doch, fährt sie fort, "ich meine, dass die Frauen
unter den Mitgliedern des Hohen Hauses (…) keine
Ausnahmestellung wünschen." Vielmehr solle ihre Wahl dazu
beitragen, jene Vorurteile abzubauen, "die einer unbefangenen
Beurteilung der Rolle der Frau noch immer entgegenstehen".
Schnörkellose Art
Daran arbeitet sie fortan, durchsetzungsstark
und sehr erfolgreich - 1973 gilt sie als bekannteste Politikerin
der Bundesrepublik. Sie wirbt für Gleichberechtigung, "jedoch
nicht mit emanzipatorischer Attitüde", wie es in einer
Biografie über sie heißt. Dabei sorgt ihre
schnörkellose Art schon mal für Aufregung: Unvergessen,
wie der Grüne Thomas Ebermann einst lässig zum Rednerpult
schlenderte und die resolute Renger (als Vizepräsidentin) ihm
befahl, sein Hemd zuzuknöpfen - der Abgeordnete spurte. Nach
Ende ihrer Amtszeit 1976 wird Renger nicht nur
Bundestagsvizepräsidentin, sondern auch Vorsitzende der
Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe. 1990 beschließt
sie, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren. Ihre
politische Arbeit aber setzt sie bis heute fort: Inzwischen ist
Renger 87 und engagiert sich in zahlreichen Ehrenämtern. Unter
anderem ist sie Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes und
Vorsitzende der Kurt-Schumacher-Gesellschaft.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.