Frau Jbabdi, in Europa oder in den USA glaubt man vielfach, "Gewalt gegen Frauen" existiere vermehrt in islamisch-arabischen Gesellschaften. Stimmt das?
Nein, Gewalt gegen Frauen ist kein spezifisch islamisch-arabisches Phänomen. Die gibt es überall, die ist universal und kennt keine Grenzen. Ich würde nie behaupten, dass sich zum Beispiel mehr Gewalt in Marokko als in Spanien ereignet. Der einzige Unterschied besteht darin, dass es in Europa mehr Schutz für die weiblichen Opfer von männlicher Gewalt gibt. Es existieren viel mehr Organisationen, die Beratung und Hilfe anbieten oder Frauenhäuser ins Leben rufen. In Europa hat man sich früher mit dem Problem befasst und entsprechende Einrichtungen geschaffen. Wir hinken zeitlich noch ein bisschen hinterher, aber das wird sich bald geändert haben.
Was unterscheidet Ihre Frauenrechtsorganisation "Union de l'Action Feminine" von anderen in Europa?
Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit ist die Ausbildung von Frauen. Wir versuchen, Ihnen eine Erwerbsquelle zu verschaffen, damit sie unabhängig werden. Bei uns lernen sie beispielsweise Nähen oder Töpfern, ein Handwerk, das ihnen ein Einkommen garantiert. Marokkanische Frauen gehen sehr oft, gerade auf dem Land, in keine Schule und lernen auch keinen Beruf. Sie sind Mütter und Hausfrauen. Sollte die Ehe scheitern, stehen sie meist vor dem Nichts.
Und dann kommen sie zu Ihnen?
Ja, einige. Wir suchen für sie ein Dach über dem Kopf, vermitteln mit der Familie, wenn das noch irgendwie möglich ist, beraten gemeinsam, wie die Zukunft der Frauen aussehen könnte und wie wir ihnen dabei weiterhelfen.
Im Süden Marokkos gibt es zudem zahlreiche Frauenkooperativen, die in Eigenregie Arganöl produzieren und vertreiben. Sind die Bestandteil des Netzwerkes der "Union de l'Action Feminine"?
Nein, nicht direkt. Aber einige dieser Kooperativen wurden von ehemaligen Mitgliedern der "Union" gegründet, so dass man sagen kann, sie sind ein Resultat unserer langjährigen Arbeit. Wir würden uns noch viel mehr solcher Projekte wünschen. Sie zeigen, wie Frauen Verantwortung übernehmen und die ganze Familie ernähren können. Gerade im Süden, wo die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist.
Und die Ehemänner der Frauen unterstützen das?
Manchen Männer fiel es zuerst schwer, sich an die Ehefrau als Alleinverdienerin zu gewöhnen. Als sich dann allerdings herausstellte, dass die Familie besser als zuvor leben konnte, vergaßen sie sehr schnell die vorgefertigten Geschlechterrollen. So einfach und schnell kann es zu positiven Veränderungen kommen. Das ist genau das, wofür wir arbeiten.
Es gibt, neben Ihnen, viele andere muslimische Frauen, die sich für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzen. Aber offenbar halten Sie von diesem islamischen Feminismus nicht viel. Der Begriff "Gender Jihad" ist Ihnen ein Graus. Warum?
Für mich ist dieser Begriff ein Widerspruch in sich. Was ist das für ein "Jihad"? Wie kann man eine Feministin sein und sich gleichzeitig zu einer fundamentalistischen Bewegung zählen? Das passt nicht zusammen.
Welche Ziele verfolgt dann Ihre Organisation im Gegensatz zu einigen Verfechterinnen des "Gender Jihad"?
Nun, zunächst fühle ich mich natürlich auch der muslimischen Kultur verbunden. Doch in erster Linie sehe ich mich als marokkanische Staatsbürgerin. Und deshalb sind meine Bezugspunkte die universellen Menschenrechte. Ich habe nichts zu tun mit islamistischen Ideen und Fundamentalismus, ich bin eine feministische Muslimin, keine feministische Islamistin. Ganz abgesehen davon, will ich mit dem Begriff "Jihad", wie ihn auch Nadia Yassine von der Bewegung "Gerechtigkeit und Spiritualität" verwendet, nichts zu tun haben. Wie immer man ihn interpretiert, er ist ein altertümlicher Begriff, den man heute nicht mehr benutzen sollte. Er stammt aus einer historischen Epoche vor 14 Jahrhunderten.
Das klingt so, als könnte es zwischen Ihnen zu keiner Zusammenarbeit kommen, obwohl doch beide Seiten das gleiche wollen, nämlich die Gleichberechtigung der Frau?
Ich glaube kaum, dass wir wirklich gemeinsame Ziele haben. Meine Organisation will eine soziale Veränderung und die absolute Gleichstellung der Geschlechter. Sie hat lange vor den islamistischen Feministinnen, seit den 1980er-Jahren, in Marokko für Gleichberechtigung, gegen Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen gekämpft. Die islamistischen Feministinnen, wie Nadia Yassine, sind erst in den letzten Jahren auf den "Frauen-Zug" aufgesprungen und interpretieren den Islam in einer rigiden, reaktionären und orthodoxen Weise. Ihr Hauptanteil an der Neufassung des marokkanischen Familienrechts im Jahr 2003 bestand darin, dass sie unsere Arbeit torpediert haben.
Das kann man gar nicht glauben…
Ich kann Ihnen gerne Beispiele dafür nennen. 2000 machten wir einige Veranstaltungen über das neue Familiengesetz. Darunter auch eine Konferenz, zu der Vertreter von Yassines Bewegung kamen. Wir wurden als Ungläubige beschimpft, die gegen den Koran sind. Als wir im gleichen Jahr zusammen mit über 60 Organisationen der Zivilgesellschaft für die Neufassung des Gesetzes in Rabat demonstrierten, wurde eine Gegendemonstration in Casablanca abgehalten. Unter den Rednern war auch Nadia Yassine, die sich gegen das Gesetz aussprach, weil es gegen den Islam gerichtet und vom Wes-ten diktiert sei. Natürlich, das will ich betonen, kann man nicht alle Mitstreiterinnen des "Gender Jihad" über einen Kamm scheren. Aber sofern sie, wie Yassine, aus einer islamistischen und fundamentalistischen Ecke kommen, ist ihr Wunsch nach Gleichstellung der Frau äußerst fragwürdig.
Musste die "Union de l'Action Feminine" nicht auch religiös argumentieren? Ganz ohne Islam sind auch Sie bei Ihrem Kampf für mehr Rechte der Frauen nicht ausgekommen.
Ja, das war unbedingt nötig, als wir für die Neufassung des Familiengesetzes kämpften…
…das 2003 auf Initiative des Königs verabschiedet wurde und unter anderem besagt: Keine marokkanische Frau darf mehr gegen ihren Willen verheiratet werden. Sie darf genau wie ihr Mann auf Scheidung klagen und das Sorgerecht für ihre Kinder beantragen. Ein Riesenschritt in Richtung Gleichstellung.
Richtig. Und um das mit durchzusetzen, haben wir den Koran neu gelesen und feministisch interpretiert. Das nennt sich "Ijtihad", was eine Neuinterpretation der Heiligen Schriften und eine Anpassung an die Realität meint.
Wir suchten, ausgehend von den islamischen Grundsätzen der Gleichheit aller und der sozialen Gerechtigkeit, Belege für unsere Argumentation im Koran. Das hat ganze zwei Jahre gedauert, aber wir haben viele Stellen gefunden, die unsere Werte und Prinzipien verteidigen.
War das unbedingt nötig?
Ja, sehr. Sehen Sie, in den 1980er-Jahren haben wir es versäumt, in der richtigen Sprache mit den Menschen zu sprechen. Heute haben wir einen Weg gefunden, mit den Menschen über unser Projekt so zu kommunizieren, dass sie uns auch verstehen - eben den richtigen Code für eine Kommunikation, die in einer überwiegend moslemischen Gesellschaft notwendig ist.
Inzwischen haben die Fundamentalis-ten aber auch in Marokko wieder großen Zulauf. Wie sehr behindert diese neue Popularität die Arbeit der "Union de l'Action Feminine"?
Ich will es so formulieren: Wir lassen uns nicht beeinflussen. Für uns ist es eher ein Ansporn, noch mehr zu arbeiten und noch mehr für die Rechte der Frauen einzutreten.
Und wie steht die marokkanische Regierung zu Ihrer Organisation?
Offiziell wird unsere Arbeit gewürdigt, werden auch die Probleme der Frauen anerkannt. Die aktive Beteiligung ist jedoch relativ gering. Wir bekommen das meiste Geld immer noch aus dem Ausland. Aber zurzeit gibt es eine gemeinsame Initiative von Nichtregierungsorganisationen und der Regierung, ein spezielles Gesetz über "Gewalt gegen Frauen" zu erarbeiten. Das ist schon ein großer Schritt.