Das tägliche Leben ist nicht einfach
für Jessica aus Cleveland, Ohio. Die Mutter von vier Kindern
arbeitet jeden Tag mindestens acht Stunden als
Hausaufgabenbetreuerin an einer öffentlichen Schule. Trotzdem
reicht ihr Verdienst oft nicht, um die Familie satt zu bekommen.
"Über vieles will ich mit meinen Kindern nicht sprechen", sagt
sie. "Zum Beispiel darüber, warum ihre Mutter abends manchmal
nichts isst."
Jessica, die ihre Geschichte in einem
Videotagebuch auf der Internetseite des Gewerkschaftsverbunds
AFL-CIO erzählte, gehört zu den rund 13 Prozent aller
Erwerbstätigen in den USA, die trotz Vollzeitjob unterhalb der
Armutsgrenze leben. Die meisten der Betroffenen sind Frauen,
häufig Mütter, oft alleinerziehend. Von allen 38
Millionen Amerikanern, die weniger als 9.800 Dollar im Jahr
verdienen und damit als arm gelten, sind fast 60 Prozent
Frauen.
Dass der Prozentsatz so hoch liegt, ist kein
Zufall, urteilen US-Politikwissenschaftler und Frauenrechtler. Auch
wenn einige der hochrangigen Posten in der Politik mit Frauen
besetzt sind - von Außenministerin Condoleezza Rice bis hin
zur möglichen demokratischen Präsidentschaftskandidatin
Hillary Clinton: Die breite Masse der Frauen in der
größten Volkswirtschaft der Welt sei wirtschaftlich und
politisch benachteiligt, sagt Olga Vives, stellvertretende Leiterin
der Frauenrechtsorganisation National Organization for Women (NOW).
"Wir stellen zwar 51 Prozent und damit die Mehrheit der
Bevölkerung - aber im Alltag spürt man das nicht."
Schlechte Bildung
Laut einer Untersuchung des "Institute for
Women's Policy Research" haben Frauen in den USA im Durchschnitt
eine schlechtere Schulbildung als Männer. Weil sie schlechter
qualifiziert sind, müssen sie häufiger in Billiglohnjobs
arbeiten: als Zimmermädchen, an der Supermarktkasse oder als
Putzfrau. In 22 der 50 US-Staaten gilt für solche Jobs der
bundesweite Mindestlohn von 5,15 Dollar. Die Frauen trifft das
besonders hart; sie stellen zwei Drittel aller
Mindestlohnarbeitern. "Unter der Bush-Regierung hat sich in dieser
Hinsicht kaum etwas geändert - weder zum Guten, noch zum
Schlechten", sagt Michael Tanner, Experte für soziale
Sicherung beim liberalen Cato-Institut.
Der Stillstand beim Mindestlohn hat dazu
geführt, dass in den USA die Ungleichheit zwischen den
Geschlechtern heute groß ist: Für einen Dollar, den ein
Mann in den USA für seine Arbeit erhält, bekommt eine
Frau nur 76 Cent. Ein bereits im Jahr 1972 unter dem Namen "Equal
Rights Amendment" in den Kongress eingebrachter Verfassungszusatz,
der gleiches Einkommen für gleiche Arbeit verbindlich machen
sollte, ist bis heute nicht zu geltendem Recht geworden, da 15
Staaten ihm nicht zugestimmt haben.
"Den meisten US-Politikern fehlt einfach die
Sensibilität für diese Probleme", sagt Frauenrechtlerin
Vives. So ließ Präsident Bush nach seinem Amtsantritt
2001 auf der Internetseite des Weißen Haus den Link auf das
"Office of Women's Affairs" eliminieren, das sich unter anderem
für gleichen Lohn für gleiche Arbeit einsetzt.
Ein großer Teil der weiblichen
Benachteiligung habe mit der republikanischen Dominanz in Kongress
und Weißem Haus in den vergangenen Jahren zu tun, sagt Bill
Martin, Professor für Religion und Politik am Baker-Institut
der Rice-Universität in Houston. "Die Neo-Konservativen haben
die Rechte der Frauen heftig beschnitten." Viele republikanische
Politiker stünden stark unter dem Einfluss
fundamentalistisch-christlicher Interessengruppen wie der "National
Association of Evangelicals" (NAE), die nach eigenen Angaben 30
Millionen Mitglieder zählt und strikt gegen Abtreibung,
Homo-Ehe und Stammzellenforschung ist.
In den vergangenen Jahren kürzte der
Kongress auch die staatlichen Fonds für Familienplanung:
Über das Medicaid-Programm und andere Projekte gaben die
US-Staaten noch 2002 rund 1,26 Milliarden Dollar für
Verhütungsmittel für finanzschwache Frauen aus.
Mittlerweile sind in 29 der 50 Bundesstaaten die Finanztöpfe
zusammengeschrumpft worden - nach Ansicht demokratischer Kritiker
eine Folge des Einflusses christlicher Interessengruppen.
Am deutlichsten sei deren Macht jedoch beim
Thema Abtreibungsrechte, sagt Professor Martin. Zwar sind
Schwangerschaftsabbrüche bundesweit seit 1973
grundsätzlich erlaubt. Doch in einigen Bundesstaaten werden
derzeit schärfere Gesetze diskutiert, darunter Georgia, Ohio,
Missouri und Tennessee. Zuletzt sorgte eine Gesetzesinitiative
für South Dakota für Aufregung: Das dortige
Abgeordnetenhaus verabschiedete im März 2005 einen drastischen
Entwurf. Demnach sollte eine Abtreibung nur noch erlaubt sein, wenn
das Leben der Mutter unmittelbar in Gefahr ist. Sogar nach
Vergewaltigungen und Inzest wären Abtreibungen somit illegal
geworden.
Mit einem Volksentscheid im November brachten
die Bewohner South Dakotas diesen Gesetzesentwurf zwar zu Fall.
Doch auch jetzt schon sei es in ländlichen Staaten wie South
Dakota fast unmöglich, überhaupt eine Abtreibungsklinik
zu erreichen, sagt Casey Murschel, Sprecherin des Vereins
Pro-Choice, der für Abtreibungsrechte kämpft. "Im
gesamten Staat South Dakota etwa gibt es nur eine Klinik. Die
meisten Frauen müssen stundenlang fahren, um dorthin zu
kommen." Gemessen an der Fläche ist der Bundesstaat fast so
groß wie Großbritannien.
Bei den Kongresswahlen im November gewannen
die Demokraten die Mehrheit in beiden Kammern. Nun hoffen
Frauenrechtsorganisationen wie NOW, dass sich die Situation der
US-Frauen bessert - sowohl bei Abtreibungsrechten als auch beim
Wohlstand des weiblichen Geschlechts.
Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in New York.