Für Buna Devi ist ein Traum wahr
geworden. Sie geht zur Schule - keine Selbstverständlichkeit
in Indien. Sie ist 18 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern. Wie
viele Mädchen in Indien wurde Buna bereits mit 13 Jahren
verheiratet. In ihrem Dorf im bitterarmen Bundesstaat Bihar
schütteln viele Bewohner den Kopf, wenn Buna morgens für
einige Stunden zum Unterricht geht, den eine Hilfsorganisation
eingerichtet hat. Eine Frau in ihrem Alter mit zwei Kindern solle
nicht lernen, sagen sie. Doch Buna will es so, denn sie hofft auf
ein besseres Leben. Das allerdings liegt für viele indische
Frauen trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs in ihrem Land in
weiter Ferne. Gerade die Armen profitieren nur wenig vom
Wirtschaftswunder.
Das Gandhi-Land boomt, Wachstumsraten um acht
Prozent lassen Industrienationen wie die USA oder Deutschland blass
aussehen. Dennoch ist die größte Demokratie der Welt im
vom Weltwirtschaftsforum 2006 erstellten Gender Gap Index
Schlusslicht - sie belegt Platz 98 von 115 Ländern. Der Index
misst die Unterschiede zwischen Mann und Frau in den Bereichen
Bildung, Gesundheit und Beteiligung am wirtschaftlichen und
politischen Leben. Indien ist die einzige Demokratie, die so weit
unten auf der Liste rangiert. China, die am schnellsten wachsende
Wirtschaftsmacht, belegt immerhin einen Platz im Mittelfeld.
Frauen an der Spitze
Dabei hatte Indien mit Indira Gandhi einst
eine Frau an der Spitze - fast 40 Jahre bevor in Deutschland das
Wort Bundeskanzlerin in den Sprachgebrauch kam. Insgesamt 16 Jahre
lang regierte die charismatische Politikerin das Land mit eiserner
Hand. Die Hauptstadt Neu Delhi hat eine Bürgermeisterin. Die
Schwiegertochter von Indira Gandhi, Sonia Gandhi, führt die
Kongresspartei, eine der wichtigsten Parteien des Landes. Die
Inderin Indra Nooyi leitet seit Oktober 2006 den amerikanischen
Getränkekonzern Pepsico und wurde vom Fortune Magazin zur
wichtigsten Frau in der Wirtschaft gekürt. Indien schickt
Astronautinnen ins Weltall. Der renommierte britische
Booker-Literaturpreis ging in diesem Jahr an die Inderin Kiran
Desai.
"Der Wirtschaftsboom hat für einen Teil
junger, gebildeter Frauen aus der Mittelschicht neue
Möglichkeiten eröffnet", sagt Brinda Karat, prominente
Frauenrechtlerin in Neu Delhi. "Doch die wirtschaftliche
Entwicklung des Landes geht an der großen Mehrheit der Frauen
vorbei." Seit zehn Jahren ist Karat Generalsekretärin der
linken All Indian Democratic Women's Association. Seit mehr als 30
Jahren kämpft die Absolventin einer Elite-Schule als
Gewerkschafterin für die Armen und Unterprivilegierten im
Lande. In traditionellen Wirtschaftszweigen, wie etwa dem Handwerk,
der Textil- oder Landwirtschaft, setzen sich moderne, industrielle
Produktionsweisen durch - dadurch gehen viele Jobs, in denen
bislang Frauen arbeiteten, verloren, kritisiert Karat. Und auch der
indische Staat, der bislang der größte Arbeitgeber von
Frauen war, schaffe keine neuen Stellen mehr.
Brinda Karat ist nicht allein mit ihrer
Einschätzung. "Die Globalisierung hat den Armen Indiens nicht
geholfen, nur der Mittelklasse und den Gebildeten", sagt Ruth
Manorama, die Gewinnerin des alternativen Nobelpreises 2006. Die
54-Jährige aus Bangalore setzt sich seit Jahrzehnten für
die Rechte der Unberührbaren, der Dalits, ein. Dalits stehen
am untersten Ende des indischen Kastensystems. Manorama kämpft
für die Armen, die auf der Kehrseite des Wirtschaftsbooms
leben - in den Slums von Bangalore, dem Software-Mekka und Symbol
für das neue, glänzende Indien. "Mit der fortschreitenden
Urbanisierung Indiens gehen immer mehr Arbeitsplätze für
die Armen verloren", kritisiert Manorama. "Es ist eine neue Form
von Apartheid. Die in den Gebäuden arbeiten, werden reicher,
die draußen ärmer. Die Armen in den Städten werden
marginalisiert. Die Regierung gibt Land an Software-Firmen und
multinationale Unternehmen, aber die Slums der Armen werden
aufgelöst. Für wen bauen wir unsere Städte? Für
die 300 Millionen Inder der Mittelklasse." Besonders schlecht dran
seien die etwa 80 Millionen Dalit-Frauen in Indien. "Ich nenne sie
Dalits unter Dalits", sagt die Aktivistin.
Wie wenig die Masse der Frauen vom
Wirtschaftswunder profitiert, zeigt ein Blick auf die neuesten
Zahlen. Wie das Statistikamt in Neu Delhi im Dezember mitteilte,
ist die Erwerbstätigkeit bei Frauen in den letzten drei
Jahrzehnten um nur fünf Prozent gestiegen. Sie liegt den
Angaben zufolge bei etwa 25 Prozent. Bei Männern ist sie mehr
als doppelt so hoch. Damit liegt Indien in der internationalen
Rangfolge weit unten. Nur noch Bahrain, Pakistan, Iran, Jemen und
Saudi Arabien schneiden schlechter ab.
Trotz dieser Zahlen kommt im Alltag vieler
indischer Frauen das Wort Freizeit nicht vor. Zeitstudien zeigen,
dass Inderinnen mehr als drei Viertel ihrer Zeit fernab
marktwirtschaftlicher Tätigkeit bei der Hausarbeit oder in der
Kinder- und Altenbetreuung verbringen. Indische Männer
hingegen nutzen nur acht Prozent ihrer Zeit für solche
Aufgaben. In keinem anderen der 177 untersuchten Länder ist
der Unterschied zwischen den Geschlechtern so groß.
Die Doppelschicht für Frauen habe in den
letzten Jahren weiter zugenommen, sagt Brinda Karat. Weil sich der
Staat aus den Bereichen Gesundheit, Bildung und sozialer
Dienstleistung immer mehr zurückziehe, bleibe mehr Arbeit an
den Frauen hängen. Zudem habe der Wirtschaftsaufschwung die
ohnehin geringe Wertschätzung der Frau in Indien noch
verschlechtert. Die neue Konsumkultur in Indien erhöhe
vielmehr die Ansprüche, so Karat, etwa bei der Mitgift: Weil
Frauen in der indischen Gesellschaft weniger wert sind als
Männer, sollen die Geschenke der Brautfamilie an den
Bräutigam sozusagen den "Minderwert" der Frau ausgleichen.
Heute kann es eine Familie bis zu 100.000 Euro kosten, die Tochter
standesgemäß zu verheiraten, und das obwohl die
Forderung nach Mitgift seit mehr als 40 Jahren gesetzlich verboten
ist. Doch selbst neueren Umfragen zufolge, halten drei Viertel
aller Inderinnen eine Heirat ohne Mitgift noch immer für
unmöglich.
Wie hoch die Erwartung der Mittelklasse
inzwischen ist, zeigt der Fall von Nisha Sharma, einer
Informatikstudentin in New Delhi, die 2003 ihre von den Eltern
arrangierte Hochzeit absagte. Obwohl Ihre Eltern für ein Auto,
zahlreiche Haushaltsgeräte und eine sündhaft teure
Zeremonie für 1.500 Gäste gezahlt hatten, forderte der
Bräutigam kurz vor der dem priesterlichen Segen nochmals
25.000 Euro bar auf die Hand. Die mutige Braut stellte jedoch nicht
das System der Mitgift in Frage, sondern wandte sich gegen Gier und
überhöhte Ansprüche der Männer und ihrer
Familien.
Streit um die Aussteuer
Das geht nicht immer gut: Laut offizieller
Statistik sterben auf dem Subkontinent pro Jahr etwa 7.000 Frauen,
weil sie wegen Streits um die Aussteuer von ihrem Mann oder dessen
Familie umgebracht werden. In Wirklichkeit dürften die Zahlen
weit höher liegen. Auch um drückende Schulden zu
vermeiden, die durch eine solche Mitgift entstehen, entscheiden
sich viele besser gestellte indische Familien gegen eine Tochter.
Zwar hat die Regierung die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung
schon vor mehr als zehn Jahren verboten, doch für ein wenig
Bargeld sind viele Ärzte immer noch bereit, den werdenden
Eltern Auskunft zu geben. Manche Mediziner behelfen sich mit
dezenten Hinweisen, indem sie etwa nach der Untersuchung Bonbons in
blauer oder rosa Farbe offerieren. Weder Gesetze noch die "Save the
Girl Child"- Kampagnen der Regierung können viel gegen den
Trend ausrichten.
Wie weit die Praxis verbreitet ist, zeigt das
zahlenmäßige Verhältnis zwischen Mann und Frau: In
Haryana, dem reichsten Bundesstaat Indiens, kamen 2001 nur noch 823
Mädchen auf 1.000 Jungen zur Welt. Nach einer Schätzung
der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" sind in den letzten
20 Jahren zehn Millionen weibliche Föten abgetrieben worden.
Fachleute gehen davon aus, dass der Trend sich eher noch
verschärfen wird, weil die vorgeburtliche
Geschlechterbestimmung immer billiger wird.
"Eine Tochter groß zu ziehen, ist wie
den Garten des Nachbarn zu bewässern", heißt ein
indisches Sprichwort. Denn während die Töchter für
viel Geld verheiratet werden müssen, bleiben die Söhne
bei der Familie und sorgen im Alter für ihre Eltern.
Die geringe Wertschätzung der Frauen
spiegelt sich auch in der Lebenserwartung und Bildung wider. Ihre
Lebenserwartung liegt laut "Human Development Report 2006" bei 65,3
Jahren. Im Nachbarland Sri Lanka werden Frauen immerhin
durchschnittlich 71,3 Jahre alt. Zudem kann nur knapp die
Hälfte der erwachsenen Inderinnen Lesen.
Auch werden Frauen in Indien häufig
Opfer von Gewalt, obwohl Indien laut einem Bericht der Vereinten
Nationen zu den Staaten gehört, die die meisten Gesetze zum
Schutz von Frauen haben. Vergewaltigungen gelten aber immer noch
als Kavaliersdelikt.
Trotz aller negativer Befunde gibt es aber
auch positive Zeichen: "Indische Frauen sind erstmals in der Lage,
für sich selbst zu kämpfen", sagt die Frauenrechtlerin
Manorama. "Das ist ein großer Erfolg. Aus dem Nichts heraus
sind sie an die Öffentlichkeit gegangen. Manche haben einen
sehr starken Ehrgeiz, für ihre Rechte zu kämpfen."
Natürlich, fügt sie hinzu, "hat das 25 Jahre gedauert.
Aber es ist ja auch nicht einfach."
Die Autorin ist freie Journalistin und lebt seit 2006 in Neu
Delhi. Sie schreibt für deutsche Tageszeitungen und
Magazine.