Die Stadt des Frauenhandels ist eine Stadt
auf rotem Schlamm, ohne Asphalt. Nur Schlaglöcher und
Hütten und Märkte haben sie hier, auf denen alle anbieten
und keiner kauft. Es ist ein ständiger Stau in Benin City,
wuselig und voll ist die Stadt, in der über eine Million
Menschen leben. Die Arbeitslosenquote liegt bei 90 Prozent. Benin
City war mal eine Stadt des Handels, von hier kamen Holz und Gummi,
und die Menschen produzierten Möbel und Bronzefiguren. "Aber
dann kamen die Europäer und machten alles platt. Sie holten
unsere besten Leute fort, ruinierten die Märkte, und
zurück blieb eine zerstörte Stadt", so sieht und sagt es
Reverend David Ugolor, der das "Afrikanische Netzwerk für
Entwicklung und wirtschaftliche Gerechtigkeit" leitet.
Heute exportiert die nigerianische Stadt ihre
Töchter. Denn aus Benin City kommen die schwarzen Frauen, die
bei uns in Europa an den Straßenrändern der
Industriegebiete stehen. Die Familien hier sind so arm, dass sie
die Mädchen an Schlepper übergeben, darauf hoffend, dass
irgendwann Geld aus dem Paradies kommt, und wenn kein Geld kommt,
wenn die Schulden bei den Schleppern nicht bezahlt werden
können, dann haben die Familien nicht nur die Töchter
verloren, sondern auch noch ihr Haus, weil das Haus das Pfand ist
in diesem Spiel. 60.000 Euro sind das Geschäftsvolumen; 60.000
Euro muss die Familie den Schleppern zahlen, irgendwann, und die
meisten Väter und Mütter lassen sich darauf ein, weil die
wenigsten Menschen in Benin City wissen, wie schwer 60.000 Euro zu
verdienen sein werden an Europas Straßenrändern.
Wer nicht mitspielen will, schreibt an die
Wände seines Hauses: "This house is not for sale", das
bedeutet, dass die Schlepper und Zuhälter an diese Tür
nicht klopfen müssen.
Die Mädchen sind 13 oder 14 Jahre alt;
sobald sie einen Busen bekommen, sind sie Ware, und dann
müssen sie fort. Alle hier wissen es und viele, viel zu viele,
machen mit, und jeder kriegt ein bisschen Geld ab - und wenn ein
Schlepper heute in den Knast kommt, ist er morgen frei.
Mädchenhandel ist in Nigeria ein
florierendes und durchorganisiertes Geschäft: Es funktioniert
mit gekauften Visa, mit Flugtickets und mit
Verbindungsmännern, die die Mädchen in Europa
erwarten.
Bevor die Mädchen fliegen, gehen die
Familien zur Priesterin, zum Zauberer, denn die Mädchen
müssen eine Zeremonie hinter sich bringen, an deren Kraft hier
alle glauben. Es ist ein doppeltes Spiel, es geht um Schutz und
zugleich um Druck.
Eine dieser Voodoo-Priesterinnen, Chief
Princess Ikpate oba, hat ein starres linkes Auge. In einer Ecke der
Hütte liegen auf einem Haufen Federn, Kuhköpfe,
Hühnerköpfe, Flaschen, Gläser, Knochen und rostige
Macheten, alles stinkt nach Kadaver. Dies ist der Altar. Und wenn
die Zeremonie beginnt, tritt die Meisterin vor, bespritzt den Altar
mit Wein oder - wirkungsvoller, wenngleich teurer - mit Gin und
nimmt selbst einen Schluck und spricht ihre Sprüche. Und singt
und tanzt und kreischt.
Damit schützt die Hexe das Mädchen,
das in die Ferne reisen muss. Aber zugleich zwingt sie das
Mädchen zur Loyalität. Denn es muss nun ein Gebräu
aus Blut und Wein und den eigenen Achsel- und Schamhaaren trinken,
ein Ritual, das bewirken soll, dass es in Zukunft immer erreichbar
sein wird für die Hexe. Falls das Mädchen sich in Europa
verstecken und weigern sollte, die Schulden zurück zu zahlen,
wird es nicht mehr lange leben. Dann haben die Gläubiger ein
Recht darauf, von der Hexe die Verzauberung der Verschleppten zu
verlangen, und die Hexe schickt einen Fluch, einen juju, über
das Mittelmeer.
Es ist eine Weile her, es war vor unserer
Reise nach Benin City, da trafen wir in einer westdeutschen
Kleinstadt eine junge Frau, die geschützt werden muss; nennen
wir sie also Sandra. Sandra war 25 Jahre alt, sie saß in
einem Bahnhofsrestaurant in Jeans und weißem Top und
Strickjacke, die lockigen schwarzen Haare hatte sie
zurückgebunden, die braunen Augen flackerten. Sandra war
schlau, schlagfertig und zugleich ziemlich schüchtern, weil
sie sich verstecken musste vor Schleppern und Zuhältern.
Sandra erzählte langsam. Sie spricht
fließend Deutsch, aber sie wartete oft fünf Minuten
lang, bevor sie wieder ein Wort sagte. Sie saß vier Stunden
lang vor einem Glas Mineralwasser, und am Ende sprang sie auf,
rannte davon, war fort, und ihr Wasserglas war noch immer
halbvoll.
Sie erzählte uns ihre Geschichte: "Der
Mann, der mich hergebracht hat, heißt Onko. Er war
ungefähr 30 Jahre alt, ein schwarzer Mann, aber ich kenne nur
diesen einen Namen: Onko. Wahrscheinlich sucht er mich.
Wahrscheinlich ist er wütend auf mich. So wütend, dass er
töten würde.
Mein Leben entschied sich in dem Moment, als
meine Freundin Osasa zu mir kam. Ich wollte eigentlich schlafen, es
war ein heißer Tag, mittags, ich wollte gar nicht mit ihr
spielen.
'Jetzt komm schon, ich habe hier Pfeil und
Bogen von meinen Brüdern, ich zeig's dir', sagte sie. Und dann
schoss sie. 'Jetzt bist du dran', sagte sie.
Ich weiß nicht, wie es kam. Auch nicht
mehr, wie ich den Bogen hielt. Nichts mehr. Aber auf einmal hielt
Osasa sich das Gesicht und schrie, dann kamen die anderen, alle
brüllten, schlugen mich, trugen Osasa weg. Ich weiß
nicht, wie ich es gemacht hatte, aber ich hatte ihr ein Auge
ausgeschossen.
Manchmal gibt es das ja, dass ein Moment
über ein Leben entscheidet. Das war mein Moment. Ich war neun
Jahre alt.
Von diesem Moment an hatten wir Schulden bei
Osasas Familie. Ihre Brüder wollten Geld von uns, das stand
ihnen zu. Sie durften mich verprügeln, wann immer sie wollten.
Dann kamen sie wieder und wollten mehr Geld, und nach zwei Jahren
sagte mein Vater, er könne nicht mehr, er könne mich auch
nicht verstecken, ich dürfe nicht die ganze Familie in den
Abgrund reißen. Darum müsse ich fort.
Ich habe dann gekocht für eine Frau, die
auf der Straße, unter einem Baum, eines von diesen kleinen
Restaurants hatte. Ich bekam kein Geld, aber ich durfte bei ihr
essen, das war schon viel. Und dann kam der Mann.
Er bestellte etwas, sprach mit mir, fragte:
'Bist du oft hier?' Das war Onko. Dann kam der Mann wieder und
brachte Schuhe mit. Schuhe! Verstehst du?
Onko sagte: 'Ich komme gerade aus Europa
zurück, Germany, kennst du das?' Ich hatte keine Ahnung.
Amerika und Jamaika, das hatte ich schon mal gehört, aber
nichts von Germany. Er wirkte so nett und so vertrauensvoll. 'Du
musst reich sein', sagte ich zu ihm, und er sagte: 'Ich werde bald
zurückgehen nach Germany, ich habe hier keine Familie
mehr.'
Und dann sagte er: 'Hast du Lust mitzukommen?
Germany ist ein reiches Land. Du kannst viel Geld verdienen in
Germany und zur Schule gehen. Du kannst dort tun, was du willst.'
Ich sagte: 'Ich kenne dich nicht, du bist der Weihnachtsmann
für mich, warum sollte ich mitgehen?' Er sagte: 'Du kennst
mich. Ich bin ganz normal, ich bin nett, ich habe dir Schuhe
geschenkt, oder nicht?' Rote Schuhe waren das.
Ich habe es dann meiner Mutter erzählt,
und sie sagte: 'Ja klar, das klingt gut, dann kannst du unsere
Schulden bezahlen.' Und ich hatte das Gefühl, das
plötzlich alles möglich war, ich fühlte mich ja
längst wie ein Geist, ein Mensch ohne Kopf, und was für
Möglichkeiten waren das nun.
Der Mann sagte, ich könnte nicht sofort
zur Schule gehen, ich müsste erst in einem Restaurant oder in
der Boutique seiner Frau arbeiten und ihm das Flugticket
zurückzahlen, aber dann sei ich frei. Das fand ich gerecht.
Ich dachte, Germany ist vielleicht drei Stunden entfernt, und wenn
es nicht klappt, fahre ich wieder nach Hause. Einen Vertrag haben
wir nicht gemacht, mein Leben war der Vertrag, mein Leben war die
Unterschrift.
Onko kaufte mir ein neues Kleid, 'das
zerrissene brauchst du nicht mehr', sagte er. Ich hatte Angst, als
wir in das Flugzeug stiegen, und er hatte alle Papiere, einen Pass
für mich und das Ticket. Es war ein langer Flug. Ich war 17
Jahre alt.
Und dann war ich in Oberhausen. Es war kalt
dort. Ich hatte ein Zimmer mit Fernseher und Radio. Ein Zimmer
für mich allein. Er gab mir eine Tasche und sagte, da sei
alles drin, was ich brauche, aber da waren nur Unterwäsche und
BHs. Seine Frau habe ich nie gesehen, sein Kind auch nie, ich habe
immer nur Männer gesehen. Onko war derjenige, der mir sagte,
ich müsse mit Männern schlafen, weil wir Geld
bräuchten. Ich sagte: 'Ich kann nicht.' Er sagte: 'Es ist nur
ein Mann.' Ich sagte: 'Nein, bitte, ich kann das nicht.' Er sagte:
'Es gibt Sachen, die kann man, die muss man nicht lernen.' So fing
es an.
Ein Mann kam zu mir, und dann der
nächste Mann. Immer wieder kamen sie, immer mehr, immer
weiter. Wie lange, weiß ich nicht. Sie fesselten mich, sie
schlugen mich, und das ging so, bis ich schwanger war."
Sandra lebt heute in einem Hinterzimmer ohne
Tageslicht und arbeitet schwarz für eine Schneiderin; ein paar
Euro pro Tag bekommt sie dafür. Sie hofft, dass Zeit vergeht,
dass sie vergessen wird. Sie traut sich nicht mehr, sagt sie, etwas
anderes vom Leben zu erhoffen als vergehende Zeit.
Der Autor ist Reporter beim "Spiegel". Sein Buch "Der Traum
vom Leben - Die afrikanische Odyssee" erschien 2006.