Frau Süssmuth, wenn Sie die heutige Generation junger Frauen sehen, was unterscheidet diese von Ihrer Generation?
Ich bin 1937 geboren und gehöre zu einer Generation, die sich in Fragen der Gleichberechtigung fast alles erkämpfen musste. Als ich an der Universität studierte, waren Frauen absolut in der Minderheit. Wenn Frauen in den 50er- und 60er-Jahren überhaupt einem Beruf nachgingen, gaben sie diesen im Regelfall mit der Eheschließung auf, spätestens aber mit dem ersten Kind. Die Frauen durften damals über ihre Berufstätigkeit nicht selbst entscheiden. Nur mit Erlaubnis des Mannes war es möglich zu arbeiten. Erst mit der Frauenbewegung der 70er-Jahre konnten die Frauen in ihren Rechten und ihrem Leben entscheidende Durchbrüche erzielen. Die heute junge Frauengeneration kann das kaum noch nachvollziehen.
Junge Frauen grenzen sich oft von der Generation der Frauenbewegung der 70er-Jahre ab, verbinden diese Frauen mit dem negativen Label "Emanzen" und halten Quoten für überflüssig
Die Durchsetzung der Quote in den Parteien ist für junge Frauen irritierend. Heutzutage wehren sie sich gegen Quoten, da sie diese als Privilegien empfinden. Sie wollen keine Alibifrauen sein. Sie glauben, dass es sie diskriminiert. Aber wir brauchen in fast allen Bereichen nach wie vor Frauenquoten. Es gibt kaum Frauen in Führungspositionen. An den Hochschulen sieht es schlecht aus. Da liegt sogar die Türkei vor uns. Aber auch in naturwissenschaftlichen und technischen Berufen findet man zu wenig Frauen. In der Politik stehen Frauen nur deshalb etwas besser da, weil sie auf der Basis von Quoten ins Parlament gekommen sind.
Als ich 1985 Bundesministerin wurde, war der Anteil der Frauen nicht höher als im Reichstag der Weimarer Republik. Die Erhöhung erfolgte nur durch die Quoten, wobei die Grünen den stärksten Anteil hatten. Und ich frage mich auch, was ohne die Frauenbeauftragten erreicht worden wäre. Diese Instrumente brauchen wir nicht dauerhaft, aber doch solange, bis es ohne sie läuft. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf war schon 1969 unter Kurt Georg Kiesinger Kernthema. Das ist jetzt 38 Jahre her. Und was ist seitdem in der Ganztagsbetreuung passiert? Viel zu wenig.
Das Familien- und Frauenbild innerhalb der Union wandelt sich dennoch. Die so genannte "Hausfrauenehe" wird nicht mehr als das einzig wahre Modell verstanden. Hat Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen mit dem Elterngeld einen Paradigmenwechsel eingeleitet?
Der Paradigmenwechsel ist in der CDU mit dem Essener Parteitag 1985 eingeleitet worden. Was allerdings nicht heißt, dass sich parallel in der Realität tatsächlich alles veränderte. Damals wurde das Erziehungsgeld eingeführt, was für Frauen und Männer gleichermaßen gedacht war. Außerdem haben wir für einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gekämpft.
Einen paradigmatischen Wechsel sehe ich jetzt insofern, als das Elterngeld gerade den Frauen zugute kommt, die vorher als Akademikerin ganz gut verdient haben. Neu ist außerdem, dass der Partner mindestens zwei Monate Erziehungszeit übernehmen muss, damit die Familie die volle Summe erhält. Ungelöst ist dagegen die Frage, wie die Frauen nach dem ersten Jahr die Betreuung ihres Kindes organisieren sollen.
Sie haben vor einiger Zeit gesagt, Frauen seien in den Vorhöfen der Macht angekommen. Angela Merkel ist die erste deutsche Kanzlerin und damit die personifizierte Macht. Wie übt Angela Merkel Macht aus?
Es gibt internationale Zeitungen, die sie bereits zur mächtigsten Frau der Welt gekürt haben. Ja, sie ist die Macht. Dass eine Frau Kanzlerin geworden ist, ist ganz entscheidend. Um etwas in den Köpfen von Menschen zu bewegen, braucht man Beispiele und Vorbilder. Umgekehrt ist aber auch wahr, dass wir keine einzige Ministerpräsidentin mehr haben. Die Kanzlerschaft von Angela Merkel löst nicht automatisch einen Schub für Frauen aus.
Wie würden Sie den Führungsstil von Angela Merkel beschreiben?
Ihr Stil ist sehr moderierend und kooperierend. Ein aushandelnder Führungsstil. Sehr weiblich und sehr erfolgreich.
Ausgerechnet im ersten Amtsjahr ihrer Kanzlerschaft ist das Land von einen medialen Geschlechter-Rollback erfasst worden. Mit dem Buch von Eva Herman "Das Eva Prinzip" ist eine neue Diskussion zur Frauenbewegung entstanden. Eva Herman wirft den Frauen Vermännlichung vor und fordert ein Recht auf die traditionelle Rolle als Mutter…
Eva Herman formuliert mit diesem Buch lediglich einen Turn-Back. Nach dem Motto: "Lasst uns wieder Frauen wie unsere Mütter und Großmütter sein". Sie denkt nicht konstruktiv nach vorne. Dennoch spricht sie mit dem Buch ein wichtiges Problem an. Mit den erweiterten Rechten von Frauen sind auch hohe Erwartungen und Anforderungen verbunden. Die Frauen sollen zu viel gleichzeitig leisten: Sie sollen im Beruf top sein, sie sollen aufopferungsvolle Mütter sein, den Partner stützen und entlasten, sie sollen ehrenamtlich und politisch tätig sein und super aussehen. Das ist für viele Frauen ein wahnsinniger Stress.
Doch die Antwort auf die Frage, die Eva Herman aufgreift, muss anders lauten. Nämlich: Wie verändern wir die Rahmenbedingungen für Frauen und Mütter? Warum bieten wir nicht Ganztageskinderbetreuung an und schaffen familienfreundliche Arbeitsplätze? Warum kommt Eva Herman eigentlich auf die Idee, die Frauen sollen sich zurückentwickeln? Frauen haben ein Recht auf den Beruf und eine Berufslaufbahn. Das zu betonen ist wichtig, denn sobald sie Kinder haben, müssen sie immer noch erhebliche Nachteile im Beruf hinnehmen oder ganz aus dem Berufsleben ausscheiden.
Thea Dorn sagt in ihrem Buch "Die neue F-Klasse", der Erfolg der Emanzipation sei ein Märchen, solange Frauen 70 Prozent der Niedrigverdiener ausmachten und der Großteil der Akademikerinnen als Versorgerin von Mann und Kind im schwarzen Loch des Eigenheims verschwinden. Sie plädiert für ein anderes, nämlich individuelles Selbstverständnis von Emanzipation.
Der eher individuelle Weg von Thea Dorn reicht nicht. Es bedarf insgesamt der Solidarität der Frauen, des Mitdenkens und des Einsatzes für alle Frauen. Das gilt auch und gerade in der Politik. Ich habe immer wieder erlebt, wie wichtig es ist, Frauen hinter sich zu haben. Man muss die Anderen mitnehmen. Allein geht gar nichts.
Bilden Frauen ausreichend Netzwerke und ziehen sie andere Frauen nach?
Nein, meistens vergessen sie die anderen, wenn sie auf der Leiter aufsteigen. Die Männer vergessen zwar auch manch anderen Mann. Aber am Ende haben sie immer ihre Männerbünde. Frauen betreiben das nicht so oder noch nicht konsequent. Leider!
Wenn Frauen Macht erhalten, ist es dann eine, die lediglich von Männern geliehen ist?
Ja, die Leistungs- und Verhaltensnormen, nach denen bewertet wird, sind männliche. Sie werden von den Frauen, die Karriere machen, häufig übernommen. Und in dem Punkt hat Eva Herman Recht: Das Spezifische von Frauen bleibt auf der Strecke; die Fürsorglichkeit, das kooperative Verhalten und das konstruktive Interesse an Lösungen. Gerade angesichts des verschärften Wettbewerbs in einem globalisierten Leistungskampf sollten Arbeitgeber verstehen, dass Frauen viel eher sehen, was Menschen brauchen. Die so genannten "soft skills" werden immer wichtiger. Darin sind Frauen viel stärker.
Sie haben als Frau schon in jungen Jahren sehr viel erreicht, waren Dozentin, dann Professorin. Wie kam es, dass Sie anders als die Frauen Ihrer Generation so weit gekommen sind?
Durch mein Elternhaus, vor allem durch meinen Vater. Er wollte, dass ich im Beruf erfolgreich bin. Das war ihm ein Anliegen. Ich selbst wollte nur die Mittlere Reife machen und dann Krankenschwester werden. Das war der typische weibliche Sozialisationsplan. Mein Vater hat mich davon überzeugt, Abitur zu machen und ein Studium aufzunehmen. Nachdem ich Feuer gefangen hatte, hätte ich allerdings immer weiter studieren können. Außerdem hat mein Vater mich auf die Welt sehr neugierig gemacht. Er hat mich an Grundmuster des Denkens herangeführt, etwa an die sokratischen Schriften: Denke immer daran, der andere kann auch Recht haben. Er hat mich zudem sehr stark gelehrt, in These und Antithese zu denken, die eigene Position auch radikal in Frage zu stellen.
Ein politisches Bewusstsein habe ich aber erst nach meinem 30. Lebensjahr entwickelt. Wenn ich die 30-Jährige von damals mit der fast 70-Jährigen von heute vergleiche, bin ich viel radikaler und entschiedener im politischen Denken und Handeln geworden.
Warum sind Sie in die CDU gegangen? Sie wären vermutlich auch woanders gut aufgehoben gewesen.
Ich bin Katholikin und stark von der christlichen Soziallehre geprägt. Da liegt es nahe, in die CDU zu gehen. Aber es gibt auch viele Schnittmengen mit anderen politischen Parteien. Sich für eine Partei zu entscheiden, bedeutet nicht, die andere abzulehnen. Es geht auch bei den Parteien stets darum, Gemeinsamkeiten zu finden. Gerade unter Demokraten.
Wie haben Sie es geschafft, Türen in den gläsernen Wänden zu finden, gegen die Frauen sonst üblicherweise rennen?
Ich bin mehrfach beim ersten Anlauf gescheitert, war aber nach Widerständen oft erfolgreich. Krisen veranlassen zur Klärung. Der Platz in der Politik ist mir von Bundeskanzler Helmut Kohl angetragen worden. Das ist ein Einstieg von oben, der erst mal sehr angenehm war. In der Praxis wurde es dann sehr hart. Ich musste ständig kämpfen, um durchzusetzen, was ich mir vorgenommen hatte. Was mir sehr geholfen hat, war meine eigene Überzeugung. Aus taktischen Gründen habe ich zwar manchmal so getan, als ob ich sie revidiere. Aber in Wahrheit habe ich sie nie aufgegeben. Zum anderen hatte ich immer Verbündete. Dazu gehörte damals die ganze Riege der Sozialreformer von Heiner Geißler und Ulf Fink bis zu Christian Schwarz-Schilling und Norbert Blüm. Wir waren ein Team, das sich aufeinander verlassen konnte. Insgesamt hat es in meiner politischen Laufbahn immer wieder Situationen gegeben, wo ich gedacht habe, jetzt geht es nicht mehr. Aber man muss dran bleiben. Und die Devise lautet: Einmal mehr aufstehen als hinfallen.