DATENSCHUTZ I
Die elektronische Gesundheitskarte vor dem entscheidenden Feldversuch
Der Mensch auf den Datensatz eines Biochips zusammengeschrumpft, der lebenslang im Oberarm implantiert bleibt: Juli Zehs Roman "Corpus Delicti" schildert die Horrorvision einer Gesundheitsdiktatur, in der sämtliche biologischen Funktionen überwacht werden. Der in der Fiktion entfaltete Präventionsterror basiert auf einer gigantischen Anhäufung individueller Gesundheitsdaten, und jeder Bürger hat darin das Recht, vom Staat vor Ansteckungen aller Art geschützt zu werden.
Ein solches Szenario haben die Erfinder der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gewiss nicht im Sinn, und niemand wird ernsthaft unterstellen, die Gesundheitstelematik stehe vorab im Dienst einer perfekten Überwachungsgesellschaft. Doch auch das, was auf dieser Karte einmal gespeichert werden soll, stieß schon auf Bedenken, als das Parlament ihre Einführung 2004 beschloss mit dem Ziel, sie 2006 flächendeckend auszugeben. Über die Stammdaten hinaus sollte sie alles vorhalten, was über den Gesundheitsstatus eines Patienten aussagefähig sein könnte, von der Blutgruppe über Medikationen bis hin zur Krankengeschichte. Die Karte sollte der Schlüssel zur elektronischen Krankenakte werden, mittels derer Ärzte uneingeschränkt kommunizieren, Röntgenbilder transferieren sowie und kostspielige und belastende Doppeluntersuchungen vermeiden helfen sollten. Die Einsparungen für die Kassen waren dabei ein kalkulierter Effekt, der hinter den prognostizierten Vorteilen für Ärzte und Patienten aber meist verschwand.
Drei Jahre nach dem eigentlichen Stichtag ist die Gesundheitskarte in ihrem Ansehen allerdings schon etwas ramponiert. Von flächendeckender Einführung für die rund 80 Millionen Versicherten keine Spur, und auch die digitale Vernetzung der 123.000 Arztpraxen, 65.000 Zahnarztpraxen, 21.000 Apotheken und 2.200 Krankenhäuser liegt in weiter Ferne. Schon die Startphase lief zögerlich an, weil an die Sicherheit dieser hochsensiblen Daten strenge Anforderungen gestellt sind. Grundsätzlich gilt, dass nur der Patient bestimmt, welche Daten gespeichert werden und wer Zugriff auf sie hat. Eingelöst werden soll dies mit einer nur ihm zugänglichen PIN-Nummer.
Während das Verschlüsselungssystem inzwischen als sicherer gilt als das der Banken, hält die Kritik an der beabsichtigten zentralen Datenspeicherung bis heute an. Gerade Ärzte sehen durch die geplante Auslagerung der Krankenakten das Arzt-Patienten-Verhältnis gefährdet und forderten auf dem Deutschen Ärztetag 2008, Gesundheitskarte und Gesundheitsakte zu trennen und letztere statt auf einem Zentralserver auf einem dezentralen USB-Stick zu speichern, den der Patient mit sich führen soll.
Aber auch die für das Jahr 2009 geplante "heiße" Phase, in der die Gesundheitskarte in den sieben Modellregionen ausgegeben und den Online-Test bestehen sollte, hat sich verzögert. Das liegt zum einen an der schleppenden Einführung von Lesegeräten für die Arztpraxen, zum anderen an der schwindenden Akzeptanz der Ärzte, die am Modellprojekt teilnehmen.
In der Region Nordrhein kam es im Juni zum Eklat: Während die Vorstände der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) die eGK forcierten, forderte die Freie Ärzteschaft mit Hinweis auf die schlechten Abrufzahlen der Geräte, aus dem Versuch auszusteigen. Daraufhin traten die beiden KV-Vorstände zurück. Gesundheits-Staatssekretär Klaus Theo Schröder ließ indes keinen Zweifel daran, dass die Region pünktlich zum Oktober starten wird.
So hoch schlagen die Wellen nicht überall, aber auch andernorts reagieren Patienten verunsichert und Ärzte verärgert. Manch ältere Patienten scheitern schon daran, dass sie sich die sechsstellige Geheimzahl nicht merken können. Aus der Testregion Wolfsburg wird berichtet, dass die eGK, die bislang nicht mehr Daten speichert als die bisherige Karte, gar nichts bringe. Die Ausstellung von Rezepten sei, klagt ein Arzt, "eine furchtbar umständliche Prozedur". Auch im Testgebiet Heilbronn verzögert sich der Start des Online-Laufs aufgrund technischer Probleme. Viele beteiligte Ärzte bezweifeln mittlerweile, dass die Gesundheitskarte jemals bundesweit eingeführt wird.
Dagegen haben die Krankenkassen, die die Kosten von offiziell 1,6 Milliarden Euro -Schätzungen gehen von bis zu 5,2 Milliarden Euro aus - im Auge haben, Interesse daran, dass die Karte bald überall in Umlauf kommt und sich aus den akkumulierten Gesundheitsdaten irgendwann Nutzen ziehen lässt. Für aktuellen Ärger sorgt die Aufforderung an die Versicherten, ein Lichtbild zur Verfügung zu stellen, verbunden mit der Drohung, sonst nicht für Arztkosten aufzukommen. Verhindert werden soll damit der florierende Kassenbetrug. Andererseits sehen sich die Kassen nicht genötigt, die Identität der Fotografierten zu überprüfen.
Während bei einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unlängst der Experte Manfred Zipperer dem eGK-Datenschutzkonzept bescheinigte, "höchsten Anforderungen gerecht" zu werden, sieht der bei dem Hearing ebenfalls vertretene Chaos Computer Club ein "technisches Großabenteuer" mit erheblichen Risiken. Martin Grauduszus, Präsident der Freien Ärzteschaft, fürchtet, dass sich der Staat schon mit kleinen Gesetzesänderungen den Zugriff auf die Daten sichern könnte. Einmal Wirklichkeit, ist seine Sorge, könnte die Karte Objekt vieler Begehrlichkeiten sein und - wie der Chip in Zehs Roman - kaum hintergangen werden: Die Hauptfigur reißt ihn sich schließlich gewaltsam aus dem Arm.