Bildatlas
Die visuellen Ikonen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Es war in einer Buchhandlung in Santa Monica, im Juli 1945. Susan Sontag war damals gerade einmal 12, blätterte in einem Fotoband. Und was sie darin sah, erzählt die amerikanische Theoretikerin rückblickend in ihrem Essay "Über Photographie", teilte ihr Leben fortan in zwei Hälften, ein Davor und ein Danach - bevor sie die Bilder aus Bergen-Belsen und Dachau sah und danach: "Als ich die Photos betrachtete, zerbrach etwas in mir."
Im Jahr des Kriegsendes entstanden wohl die meisten jener Fotos, die für das 20. Jahrhundert entscheidend werden würden; entscheidend, um das Davor zu begreifen und das Danach zu gestalten. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass Gerhard Paul im ersten Band seines Bilderatlas über "Das Jahrhundert der Bilder" einen Schwerpunkt auf jene entscheidende Zeitspanne rund um das Ende des Zweiten Weltkriegs legt. Bilder, so Herausgeber Paul, sind vor allem in jenem durch und durch visuellen Säkulum der "Stoff" geworden, "in dem sich unser Bild von der Vergangenheit formt, Geschichte entsteht".
Bilder, die zu Ikonen geronnen sind, die sich fest ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben; Bilder, die jederzeit Geschichte abrufbar machen. Um im Jahr 1945 zu bleiben: Es ist das Jahr des Flüchtlingstrecks übers zugefrorene Frische Haff; das Jahr, als das Lagertor von Auschwitz zur "visuellen Chiffre" für den Holocaust wird; in dem mit dem Foto von Hammer und Sichel auf dem Reichstag eine der wirkungsvollsten Bildmontagen aller Zeiten entsteht; als der Atompilz und der Steinengel über Trümmerdresden zu Ikonen des Leids werden. Und das Jahr, in dem jene Aufnahmen von Baggern, die Leichenberge wegräumen, um die Welt gingen, die wohl auch die junge Susan Sontag in Kalifornien sah. 1945 wird zu dem Jahr, in dem der Horror des Unvorstellbaren sichtbar gemacht wird.
Mit diesem bildgewaltigen zweibändigen Kompendium - der Band über die Zeit ab 1949 erschien bereits 2008 - lehrt Gerhard Paul das Bilderlesen. Visuelle Kompetenz gehört für ihn zur unverzichtbaren "Kulturtechnik im Medienzeitalter". Die durch die Bank exzellenten Aufsätze, unter anderem von Historikern, Kulturwissenschaftlern und Soziologen, legen offen, wie stark der existierende Bilderkanon unser Geschichtsverständnis prägte und prägt. Legt man die beiden Werkteile nebeneinander, entdeckt ein vergleichendes Sehen ungeheure Einblicke. Etwa wie viel stärker der Glaube an die Authentizität des Fotografischen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, wie der Einsatz von Luftaufnahmen oder Farbdokumente aus Kriegszeiten belegen.
Der Historiker Paul ist eine der treibenden Kräfte dieser neuen Disziplin, er hat entscheidend dazu beigetragen, dass der "visual turn", die Bildwissenschaft, in der Geschichtswissenschaft angekommen ist.
Natürlich dürfen Micky Maus, Mercedes-Stern und die mondäne Josephine Baker in jenen ersten 50 Jahren nicht fehlen. Dennoch: Den nun vorliegenden ersten Band durchzieht eine visuelle Argumentation, die um jenes Davor und Danach kreist, von dem auch Sontag sprach. Paul wählte Themen aus, die das Jahrhundert bestimmen, deren Bilderspuren rückblickend Sinn stiften würden. Zum Beispiel die antisemitische Propaganda der 1900er Jahre, die ihr Echo einige Kapitel später in den Bildgeschichten der Nazi-Zeit findet.
Selbstverständlich belässt es Paul nicht bei der reinen Aufreihung der Ikonen. Die Dekonstruktion der Symbole und somit der etablierten Bildmacht gehört immer dazu. Besonders eindrucksvoll: die Fotoserie mit US-Soldaten, die sich nacheinander in Hitlers Badewanne einseifen. Sie säubern den Bilderkanon buchstäblich von der visuell vermittelten Autorität des Diktators - auch das war 1945.
Die optische Mitte des Jahrhunderts, das Ende des ersten Bandes, überlässt Paul übrigens dem hoffnungsvollsten aller Symbole: der Friedenstaube.
Das Jahrhundert der Bilder. 1900 bis 1949.
Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2009; 440 S., 39,90 ¤