NEGATIVES STIMMGEWICHT
Bis zum 30. Juni 2011 muss das Wahlsystem reformiert werden
Eine Rekordzahl an Überhangmandaten hat die aktuelle Bundestagswahl erbracht: Insgesamt 24 Abgeordnete werden zusätzlich zu den grundsätzlich vorgesehenen 598 in den Bundestag einziehen. Sie alle gehören zu den Unionsparteien: Allein in Baden-Württemberg gewann die CDU zehn solcher zusätzlichen Sitze, außerdem vier in Sachsen, je zwei in Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern und je einen in Schleswig-Holstein, Thüringen und dem Saarland. Die CSU erzielte zum ersten Mal Überhangmandate, drei an der Zahl. Diese kommen zustande, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Durch diese Besonderheit des deutschen Wahlrechts haben die Fraktionen von CDU/CSU und FDP im neuen Bundestag eine Mehrheit von 332 der 622 Sitze. Ohne Überhangmandate wären die beiden Fraktionen mit zusammen 308 von 598 Sitzen ebenfalls in der Überzahl.
Doch die Überhangmandate könnten schon bei der nächsten Bundestagswahl der Vergangenheit angehören. Besonders umstritten sind sie, seitdem das Bundesverfassungsgericht im Juli 2008 die Regelungen, die zum "negativen Stimmgewicht" führen können, für verfassungswidrig erklärt hat. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis sahen die Richter das Problem nicht in Überhangmandaten an sich. Erst ihre Kombination mit den Verteilungsregeln der Zweitstimmen auf die Landeslisten einer Partei kann zum paradoxen Effekt des "negativen Stimmgewichts" führen. Dabei kann sich eine Stimme für eine Partei negativ auf ihre Mandatszahl auswirken. Bis zum 30. Juni 2011 muss der Bundestag deshalb das Wahlrecht reformieren. Für eine Neuregelung haben die Karlsruher Richter in ihrem Urteil bereits Vorschläge gemacht: Der Bundestag könnte die Überhangmandate abschaffen oder die Verbindung zwischen den verschiedenen Landeslisten einer Partei kappen, um Stimmverrechnungen zu verhindern. Der Mathematikprofessor Friedrich Pukelsheim schlägt wiederum vor, die Direktmandate der Wahlkreiskandidaten nicht auf Landes-, sondern auf Bundesebene mit den Zweitstimmen zu verrechnen. Auf den Sonderfall CSU, deren Überhangmandate mangels Listenverbindung nicht verrechnet werden könnten, geht sein Entwurf allerdings nicht ein. Die Grünen brachten die Vorschläge Pukelsheims im Bundestag ein, ihr Gesetzentwurf ( 16/11885) wurde jedoch im Juli 2009 abgelehnt.