TÜRKEI
Nach dem Verbot der wichtigsten kurdischen Partei steckt Ankaras Kurdenpolitik in der Krise
Lässt sich die Wirklichkeit verbieten? Am türkischen Verfassungsgericht scheint die Ansicht zu herrschen, dieses Kunststück sei möglich. Selbst viele jener Kommentatoren in der Türkei, die keineswegs den Sympathisanten der am 11. Dezember durch einen einstimmigen Beschluss der Ankaraner Richter verbotenen "Partei für eine Demokratische Gesellschaft" (DTP) zuzurechnen sind, stellen in diesen Tagen häufig Frage, was durch den Bann eigentlich gewonnen sei. Denn die DTP war die mit Abstand wichtigste von Kurden gewählte Partei der Türkei - und die einzige, die im Parlament vertreten war. Durch ihr Verbot fehlt nun ein demokratisch legitimierter Ansprechpartner für die "Kurdenfrage".
Tatsächlich steht die vorsichtige Annäherung, die der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan und seine "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) in diesem Jahr begonnen haben, damit zwar nicht vor dem Aus. Doch die als "demokratische Initiative" bezeichnete Politik wird eine schwere Bewährungsprobe auszustehen haben. Womöglich ist eine solche Probe just das, was der kemalistisch dominierte Justizapparat mit dem Verbot der DTP bezweckt hat. Eine neue Erscheinung ist das Verbot freilich nicht, im Gegenteil. Fast einem halben Dutzend Vorgängerformationen der DTP erging es ähnlich. Doch wie nach jedem früheren Fall werden die Kurden auch nach dem Gerichtsbeschluss die größte Minderheit des Landes stellen. Die Entscheidung kann auch nichts daran ändern, dass vor allem die im Südosten des Landes lebenden Kurden bei Wahlen mehrheitlich für eine "ihrer" Parteien stimmen werden, also nicht für die AKP und schon gar nicht für die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP, die sich als sozialdemokratisch bezeichnet, tatsächlich aber eine erznationalistische Politik propagiert.
Um die Bedeutung der DTP für das parlamentarische Gefüge der Türkei zu verstehen, ist ein Blick auf die kurze Geschichte dieser Partei hilfreich. Von Beginn an war ihren Politikern klar, dass der DTP der Sprung über die Zehnprozenthürde zum Einzug in das Parlament (auch "Kurdenverhinderungsklausel" genannt) nicht gelingen werde. Um die Klausel zu umgehen, traten die DTP-Politiker daher bei der Parlamentswahl 2007 als Unabhängige an. Die Unabhängigen nannten sich "Kandidaten der tausend Hoffnungen" und brachten 22 Bewerber ins Parlament, von denen sich 21 zur Fraktion der DTP zusammenfanden. Das Ergebnis bedeutete also nicht nur die trickreiche Umgehung einer diskriminierend hohen Sperrklausel, es war auch ein beeindruckender Beleg dafür, dass sich viele Kurden von den anderen Parteien des Landes nicht repräsentiert fühlen. Bei den Kommunalwahlen im März konnte die DTP ihre Vormachtstellung im Südosten des Landes weiter ausbauen.
Doch im Parlament wurde die Fraktion systematisch ausgegrenzt. Auch Ministerpräsident Erdogan kündigte an, er werde in seiner Eigenschaft als Regierungschef kein Wort mit ihren Abgeordneten wechseln. Als er im Rahmen der "demokratischen Initiative" schließlich doch mit DTP-Politikern zusammenkam, legte er Wert darauf, dies nur in seiner Funktion als Parteivorsitzender zu tun.
Kritik musste die Partei allerdings auch von wohlwollenden, liberal gesinnten Türken hinnehmen, weil sie sich nie von der sowohl von Ankara als auch von Brüssel und Washington als terroristisch eingestuften Kurdenorganisation PKK und ihrem inhaftierten Führer Öcalan distanziert habe. Natürlich weiß jeder mit den Verhältnissen in der Türkei Vertraute, dass dies leichter gefordert als getan ist. Doch habe die DTP selbst im Zenit ihres Erfolges nicht einmal den Versuch unternommen, eine eigene, konstruktive politische Sprache zu entwickeln, lautet ein nicht selten zu hörender Vorwurf.
Wie geht es nun weiter? Laut dem Urteil des Gerichts wurde zwei Abgeordneten der DTP, darunter ihrem Vorsitzenden Ahmet Türk, jegliche politische Tätigkeit untersagt. Die anderen könnten trotz des Verbots ihrer Partei theoretisch als parteilose Abgeordnete im Parlament verbleiben, haben jedoch geschlossen ihren Rückzug angekündigt. Dies könnte Nachwahlen für die frei gewordenen Sitze erforderlich machen. Um Gültigkeit zu erlangen, muss die Rücktrittserklärung allerdings vom Plenum mit einfacher Mehrheit angenommen werden. Geschieht das nicht, könnten die DTP-Abgeordneten zu einem Boykott der Sitzungen übergehen, was wiederum den Verlust ihrer Mandate nach sich ziehen könnte. Doch das sind technische Details. Sie können nichts an dem grundsätzlichen Umstand ändern, dass die parlamentarische Arbeit in einer innenpolitisch heiklen Phase nun ohne jene Partei stattfinden muss, die mit Fug und Recht von sich behaupten konnte, von ihren Wählern mit der Wahrung kurdischer Interessen beauftragt worden zu sein. Der Staat habe sich offenkundig dafür entschieden, die PKK zum einzigen wahren Repräsentanten der kurdischen Bevölkerung der Türkei aufzuwerten, hieß es dazu in einem Kommentar sarkastisch.