Terrorismus
Wolfgang Kraushaar legt ein Mammutwerk vor, um die Geschichte der RAF aufzuarbeiten. Ein ehrgeiziges Ziel.
Wolfgang Kraushaar mag es opulent: 1998 legte der Hamburger Politikwissenschaftler ein dreibändiges Werk zum Verhältnis von Frankfurter Schule und Studentenbewegung vor, das nicht nur durch die Erschließung vieler bis dato unbekannter Quellen beeindruckte, sondern auch durch seinen schieren Umfang. Mit seinem jüngsten Werk scheint er diese "Klasse durch Masse"-Tradition fortsetzen zu wollen - was aber nur in Teilen gelingt.
"Die RAF und der linke Terrorismus": So sind die beiden Bände überschrieben, die gemeinsam über 1.400 Seiten füllen. Ihr Anspruch, so Herausgeber Kraushaar, ist es, zu einer "veränderten Topologie des bundesdeutschen Terrorismus zu gelangen". Drei Revisionen werden angestrebt: Zum einen soll bei der Betrachtung der Roten Armee Fraktion stärker in den Blick geraten, dass es sich bei ihrem Terror um ein Phänomen handele, "das im Spannungszusammenhang des Kalten Krieges zu betrachten ist" - ohne internationale Kooperation und entsprechende Unterstützung sei die "ungewöhnlich lange Fortexistenz" der RAF nicht denkbar gewesen.
Zum anderen gelte es, sich vom "Organisationsfetischismus" zu verabschieden, der die Geschichte der RAF stets als Gruppengeschichte erzählt habe, und sie als "exemplarisches Phänomen" darzustellen. Zum Dritten will Kraushaar sich nicht auf die "Addition weniger Einzelbiographien" beschränken, sondern die Personen als "Ausdruck von Strömungen" verstanden wissen.
Auch wenn die aktuellen Diskussionen um die Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt und das Gnadengesuch von Christian Klar gerade einen anderen Eindruck erwecken könnten: Für Kraushaar gehört die RAF der Vergangenheit an und macht "inzwischen ganz den Eindruck eines weitgehend abgeschlossenen historischen Kapitels". Aus dieser Sicht erscheint es nur konsequent, sich dem Phänomen strikt historisch-analytisch zu nähern und es in die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse einzuordnen. Doch dieser Anspruch ist letztlich die Crux von Kraushaars Mammutwerk: Es ist schlicht zu umfassend.
In insgesamt 64 Beiträgen aus der Feder von Historikern, Soziologen, Politikwissenschaftlern und Publizisten werden insgesamt zehn Themengebiete bearbeitet, die in irgendeinem Zusammenhang mit der RAF stehen; darunter etwa "Das Konzept Stadtguerilla", "Der Staat, die Polizei und die Justiz" und "Terrorismus und Medien". Dabei kommt es naturgemäß zu zahlreichen Wiederholungen: Allein die 60-seitige Einleitung und vier weitere Aufsätze setzen sich mit dem Terrorismusbegriff auseinander und kommen letztlich zu dem Fazit, das der Politikwissenschaftler Peter Lösche bereits 1978 gezogen hat: Es gibt "keine eindeutige Definition von Terrorismus".
Etwas zu oft werden in den Aufsätzen der beiden Bände Interpretationen und Beobachtungen präsentiert, die schon länger bekannt sind. Kraushaars Schluss, mit dem so genannten Organisationsreferat, das Rudi Dutschke im September 1967 auf einer SDS-Delegiertenkonferenz gehalten hatte, habe der Studentenführer erstmals öffentlich zur Bildung einer Stadtguerilla aufgerufen, war in seinem 1998er-Werk noch überraschend. Heute ist die Aussage, dass es einen Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und der RAF gibt, nicht nur, wie Kraushaar selbst einräumt, "inzwischen unbestreitbar", sondern auch hinlänglich analysiert, diskutiert und akzeptiert. Wer mag noch bestreiten, dass Dutschke sich eben nicht als pazifistischer Reformer, sondern als Revolutionär empfand - und dabei immer wieder mit der Anwendung von Gewalt liebäugelte?
Dennoch wäre es ungerecht, den beiden Bänden vorzuwerfen, sie enthielten gar nichts Neues. Interessant und spannend werden die Aufsätze da, wo sie Aspekte der RAF-Geschichte aufgreifen, die bislang wenig Beachtung fanden. So untersucht Jörg Herrmann, Theologe an der Berliner Humboldt-Universität, den Zusammenhang von Protestantismus und RAF-Terrorismus und kommt dabei zu dem Schluss, dass es nicht unerhebliche Parallelen zwischen "RAF-Religion" und dem fundamentalistischen Protestantismus gibt: Der Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol, ein autoritärer Führungsstil und ein starkes Elitebewusstsein ließen sich hier wie dort finden.
Wie stark der Antisemitismus in den Reihen der RAF-Terroristen ausgeprägt war, untersucht Wolfgang Kraushaar in seinem Beitrag "Antizionismus als Trojanisches Pferd". Die RAF verstand sich immer als pro-palästinensisch - eine Haltung, die nach dem Anschlag auf die israelische Delegation während der Olympischen Spiele 1972 in der Erklärung gipfelte, die Aktion der Terrorgruppe "Schwarzer September" habe eine "Sensibilität für historische und revolutionäre Zusammenhänge" und "Menschlichkeit" demonstriert. Es entbehrt nicht einer zynischen Ironie, dass Ulrike Meinhof sich während ihrer Haft in Stammheim mit den Holocaust-Opfern in eine Reihe stellte und sich als Opfer einer "Vernichtungshaft" beschrieb, die nur mit Auschwitz verglichen werden könne. Wie stark die RAF viele Sympathisanten und Beobachter mit diesen Folterszenarien manipulierte, wird in den Aufsätzen von Martin Jander und Gerd Koenen deutlich.
Einem weiteren höchst interessanten Thema widmet sich der Bielefelder Historiker Klaus Weinhauer in seinem Aufsatz "Staat zeigen". Er geht der Frage nach, wie die Bundesrepublik auf die terroristische Bedrohung reagierte. Dabei zeichnet er einen interessanten Verlauf nach: Hatten die Festnahmen von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Holger Meins im Sommer 1972 für Staat und Bevölkerung noch identitätsstiftende Wirkung und führten zu einer "Vertiefung des Wir-Gefühls" (so Helmut Schmidt), so änderte sich die Stimmung spätestens nach dem "Deutschen Herbst" 1977. Kritik an den Datensammlungen der Sicherheitsorgane wurde laut, nicht wenige sahen die Bundesrepublik auf dem Weg in einen Überwachungsstaat. "Der ,Sicherheitsstaat' im ,Modell Deutschland' war kein allgemein akzeptiertes Zukunftsversprechen mehr, sondern eher eine Bedrohung", so Weinhauer.
Auch Stefan Reinecke, Carsten Polzin und Uwe Wesel konzentrieren sich in ihren Beiträgen auf die Frage, wie es im Kampf gegen die RAF um das Rechtsstaatsprinzip in der Bundesrepublik bestellt war. In seinem Exkurs über die "linken Anwälte" kommt Stefan Reinecke zu dem Fazit, diese hätten in Stammheim den Rechtsstaat verteidigt, "weil der Staat es damals mit dem Rechtsstaatlichen nicht so genau nahm". Dabei habe es dennoch mit Horst Mahler und Klaus Croissant Anwälte gegeben, die die Grenze zum Kriminellen übertreten hätten - ihnen gegenüber standen etwa Juristen wie Hans-Christian Ströbele , die die "Möglichkeiten der Anwaltsrolle bis an die Grenzen austes-teten" oder distanzierte Anwälte wie Otto Schily, die seine Mandaten aggressiv, aber strikt im Rahmen des Gesetzes vertraten.
Wie schwierig dieser Rahmen genau zu definieren war, wurde bei der Entführung von Hanns-Martin Schleyer deutlich. Ein RAF-Kommando hatte den Arbeitgeberpräsidenten im September 1977 entführt, um so elf Terroristen aus der Haft freizupressen. Eberhard Schleyer, der Sohn des Entführten, rief, nachdem eine Geldübergabe gescheitert war, das Bundesverfassungsgericht an: Der Gefangenenaustausch sei verfassungsrechtlich geboten, da die Grundrechte Schleyers auf Leben und auf Gleichbehandlung gefährdet seien. Das Gericht teilte diese Auffassung nicht und ließ der Bundesregierung bei ihrer Entscheidung freie Hand - diese entschied sich, den Terroristen nicht nachzugeben. Für den Juristen Carsten Polzin steht fest: "Das Bundesverfassungsgericht hat Hanns-Martin Schleyer nicht zum Tode verurteilt. Aber es hat die Voraussetzungen für seine Ermordung geschaffen."
Während sich hier die Parallelen zur heutigen Terrorismusbekämpfung aufdrängen, wird an anderen Stellen nicht ganz klar, warum Kraushaar die Geschichte der RAF partout mit dem heutigen Al-Qaida-Terrorismus in Verbindung bringen will - und es sei es auch nur, um zu konstatieren, was ohnehin auf der Hand liegt: Motivation, Strategie und Methoden der Gruppen unterscheiden sich fundamental voneinander. Ähnlichkeiten gibt es allerdings im Duktus - wie der inhaftierte RAF-Terrorist Chistian Klar gerade bewiesen hat.
In einer Botschaft für die Rosa-Luxemburg-Konferenz formulierte er in bester Bin-Laden-Manier, in Europa herrsche ein "imperiales Bündnis", das sich ermächtige, "jedes Land der Erde", das sich der "Neuverteilung der Profite" widersetze, "aus dem Himmel herab zu züchtigen": Die Zeit sei gekommen, "die Niederlage der Pläne des Kapitals zu vollenden". Wenn es denn eine Bruderschaft von RAF und Al-Qaida geben sollte, dann ist es ganz sicher eine der Wahn- haftigkeit.
Die RAF und der linke Terrorismus.
Hamburger Edition,
Hamburg 2006; 1415 S., 78 ¤