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Das Parlament ist in seinen politischen Funktionen gespalten - das macht seine Stärke aus
Große Koalitionen stehen in dem Ruf, die parlamentarische Kontrolle zu beeinträchtigen: Sie verfügen über große Mehrheiten im Bundestag, die Opposition ist kleiner als sonst, also wird die Regierung weniger wirkungsvoll kontrolliert. Demnach wäre jetzt wieder alles wie es sein soll - eine Regierung mit hinreichender Mehrheit dort, eine Opposition mit hinreichender Personalstärke hier?
Ja und nein - vor allem aber nein. Ja, soweit parlamentarische Kontrolle formell nur von einer bestimmten Zahl von Abgeordneten in Gang gesetzt werden kann. Das ist bei Untersuchungsausschüssen der Fall, die erst von einem Viertel der Parlamentarier erzwungen werden können, oder beim Gang zum Bundesverfassungsgericht (ein Drittel). Allerdings: Die überwiegende Zahl der Kontrollrechte steht nach der Geschäftsordnung des Bundestages bereits jeder Fraktion zu - Mitwirkung in allen Ausschüssen, proportionaler Anteil an den Debatten, Frage- und Informationsrechte, Gesetzesinitiativen, Änderungsanträge.
Nein vor allem deshalb, weil parlamentarische Kontrolle heute nicht mehr so verstanden werden kann wie im 19. Jahrhundert. Das Grundgesetz hat ein parlamentarisches Regierungssystem geschaffen. Das bedeutet, die Regierung kommt nicht von außen oder oben, etwa von einem Monarchen oder einem Präsidenten. Vielmehr wird sie erst vom Parlament installiert. Kanzler oder Kanzlerin müssen von einer Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gewählt werden. Mit einer gleichen Mehrheit kann der Bundestag jederzeit jemand anderen zum Kanzler wählen (konstruktives Misstrauensvotum) und damit eine andere Regierung einsetzen.
Das ist die erste und wichtigste Kontrollaufgabe des Bundestages: Wer wird Regierungschef, und wen beruft er oder sie als Minister? Die Mitglieder der Regierung sind überwiegend gewählte Abgeordnete des Bundestages und bleiben es. Die Regierung ist "Fleisch vom Fleische des Parlaments", so hatte es Gustav Radbruch gefordert, der große Staatslehrer der Weimarer Republik.
Dadurch werden die Abgeordneten in ihrer Mehrheit verantwortlich dafür, wie das Land regiert wird. Das ist der Fortschritt gegenüber Weimar. Es genügt nicht, die Regierung nur in dem Sinne zu kontrollieren, dass man sie angreift, ihre Versäumnisse kritisiert und ihr die Zustimmung verweigert, wenn ihre Gesetzgebungs- oder Haushaltsvorhaben jeweilige Interessen nicht berücksichtigen. Indem die Bundestagsmehrheit die Regierung in Gang setzt, verbindet sie sich mit deren Erfolg und Misserfolg. Ihre Abgeordneten und Parteien sind es, die spätestens bei der nächsten Wahl die Rechnung präsentiert bekommen. Sie sind es, die Zustimmung und Mandate verlieren, behalten oder gewinnen.
Also muss die Regierungsmehrheit des Bundestages ein starkes Interesse daran haben, dass ihre Regierung ein Erfolg wird. Folglich werden ihre Abgeordneten für sie stimmen, wo es geht und solange es geht. Andernfalls vermutet die Öffentlichkeit, man wolle diese Regierung nicht mehr. Und ebenso selbstverständlich werden die Fraktionen der Opposition regelmäßig gegen die Regierung stimmen, die sie nicht gewollt und nicht gewählt haben.
Das ist die grundlegende Spielregel des parlamentarischen Regierungssystems. Das Parlament steht politisch nicht als einheitliches "Staatsorgan" der Regierung gegenüber. Im Gegenteil: In seiner Mehrheit steht das Parlament auf Seiten der Regierung. Gegenüber stehen die oppositionellen Fraktionen. Der Bundestag ist mit der Kanzlerwahl in seinen politischen Funktionen gespalten und bleibt es für die Wahlperiode - falls nichts dazwischenkommt.
Was bedeutet das für die parlamentarische Kontrolle? Sie ist ebenfalls gespalten zwischen regierender Mehrheit und opponierender Minderheit. Dass nichts "dazwischenkommt" wollen die Koalitionsfraktionen nach Möglichkeit sicherstellen. Also kontrollieren sie "ihre" Regierung im Sinne von Beaufsichtigung, Mitsteuerung, Fehlervermeidung. Sie versuchen das meist nichtöffentlich zu tun, was nicht heißt, dass dieser Teil der parlamentarischen Kontrolle weniger wichtig wäre.
Das mit der Diskretion klappt im übrigen eher nicht - für Medien ist nichts reizvoller, als aus internen Beratungen berichten zu können, weshalb nach einem alten Bonmot in Berlin nichts geheim bleibt außer den Reden im Plenum des Bundestages.
Die Kontrolle der Opposition ist anderer Art. Sie ist kontrovers, kritisch, will Alternativen aufzeigen und sucht insbesondere die Öffentlichkeit. Das muss sie, denn die politische Willensbildung spielt sich heute nicht mehr in einer privilegierten Schicht auf der Grundlage von Reichstagsdebatten ab. Demokratie verwirklicht sich auch nicht in der Durchsetzung des Mehrheitsprinzips. Sie fängt mit der Gewährleistung politischer Minderheitspositionen erst an. Wer keine Wahl hätte, könnte nicht wählen. Bürger und Wähler müssen von Mindermeinungen und abweichenden politischen Konzepten erfahren. Die demokratisch unverzichtbare Oppositionsarbeit im Bundes- tag setzt auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit und die Interventionsmacht Dritter. Durch dieses Zusammenwirken wird ihre Kontrolle der Regierung effektiv, nicht etwa dadurch, dass die Minderheit der Mehrheit etwas verbieten könnte. Das letztere ist wichtig, denn die Verantwortlichkeit muss bei denen bleiben, die entscheiden. Dieses grundlegende Spannungsverhältnis ersetzt die überkommene "Gewaltenteilung" zwischen "dem" Parlament und "der" Regierung.
So kommt es, dass der Bundestag alles durch diese zugleich mehrheitliche und oppositionelle Kontrollfunktion wahrnimmt: den Haushalt, die Pläne der Regierung und die Gesetzgebung. Für diese kommen drei Viertel der Entwürfe von der Regierung: Die Abgeordneten der Mehrheit basteln in der Regel nicht selbst Gesetze zusammen, sondern kontrollieren politisch, was die Regierung vorlegt. Dabei gilt das "Struck'sche Gesetz": Kein Entwurf kommt so aus dem Bundestag heraus, wie er hineingegeben wurde. Diese zweifache, alle Parlamentsaufgaben einbeziehende Kontrolle ist eines der Erfolgsgeheimnisse des Bundestages durch die 60 Jahre seines Bestehens. Es ist kein Grund zu erkennen, warum diese Ausgestaltung der parlamentarischen Regierungsweise nicht auch zukünftig erfolgreich sein sollte.
Der Autor ist Parlamentsrechtler und
war von 2002 bis 2006 Direktor
beim Deutschen Bundestag.