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Gültig ab: 05.08.2008 10:19
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Sozialstaat aus der Balance?

Carsten Schneider und Inge Zeller auf einer Wippe auf einem Kinderspielplatz
Soziales Gleichgewicht bewahren, gerade im Interesse der jungen Generation: Carsten Schneider und Inge Zeller auf einem Kinderspielplatz im Berliner Tiergarten
© Thomas Köhler/photothek.net

Streitgespräch: Inge Zeller und Carsten Schneider

Was bedeutet es heute in Deutschland, arm zu sein, und wie lässt sich die soziale Schieflage bekämpfen? Wo treffen sich politische Rezepte und persönliche Erfahrungen? BLICKPUNKT BUNDESTAG hat zwei unterschiedlich Betroffene zum Streitgespräch gebeten: Inge Zeller (49), eine Diplombetriebswirtin, die seit drei Jahren arbeitslos ist und von Hartz-IV-Leistungen leben muss, und den SPD-Bundestagsabgeordneten Carsten Schneider (34), der haushaltspolitischer Sprecher seiner Fraktion ist und bei seinen Wählern im Wort steht, endlich den gewaltigen Schuldenberg des Staates abzubauen.

Blickpunkt Bundestag: Frau Zeller, können Sie uns kurz Ihre Situation beschreiben?

Inge Zeller: Ich bin 49 Jahre alt, studierte Betriebswirtin und habe eine Tochter. Seit 2004 bin ich erwerbslos. Trotz aller Bewerbungen habe ich keine neue Arbeitsstelle gefunden. Ich arbeite inzwischen aktiv im ver.di-Erwerbslosenausschuss mit. Seit 2005 lebe ich von der Grundsicherung.

Blickpunkt: Was heißt das konkret?

Zeller: Das heißt, dass ich 351 Euro monatlich zur Verfügung habe. Davon gehen ab Strom, Telefon, Versicherung, wenn man sie hat, dann die Ausgaben für Verkehr. Zum Leben bleiben mir 175 Euro. Eigentlich soll ich davon nach Meinung der Bundesregierung noch 16 Prozent ansparen, um defekte Geräte wie etwa eine kaputte Waschmaschine ersetzen zu können.

Blickpunkt: Könnten Sie von 351 Euro im Monat leben, Herr Schneider?

Carsten Schneider: Ich weiß es nicht. Die Antwort ist wirklich schwer. Sicher: Ich habe früher als Azubi wirklich nicht im Luxus gelebt. Aber heute? Das wäre sicherlich schwierig. Das ist keine Situation, die ich mir wünschen möchte.

Blickpunkt: Frau Zeller, empfinden Sie sich als arm?

Zeller: In einem reichen Land wie Deutschland will kein Mensch zugeben, dass er arm ist. Ich stehe dazu. Ja, ich empfinde mich als relativ arm, so wie auch die 15 Millionen anderen Deutschen es sind, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens, so wird Armut ja offiziell definiert, zum Leben haben.

Blickpunkt: Ist für Sie, Herr Schneider, Frau Zellers Lage selbst bedingt oder stimmt etwas mit unserem Arbeits- und Sozialwesen nicht?

Schneider: Ich kann das schwer beurteilen, dafür müsste ich die persönliche Lage von Frau Zeller genau kennen. Aber klar ist: Wir haben noch immer zu wenig Arbeitsplätze und die Zahl der Arbeitslosen ist zu hoch. Aber es gibt seit einigen Jahren eine Trendumkehr auf dem Arbeitsmarkt, gerade bei denen, die kurzzeitarbeitslos sind. Leider gibt es bei den Langzeitarbeitslosen kaum Bewegung.

Blickpunkt: Armut wird mit statistischen Größen definiert. Was ist für Sie Armut?

Schneider: Das ist vor allem eine Frage der Lebensperspektive. Wenn Sie als Student von 600 Euro BAföG leben müssen, im Gegensatz zum Empfänger von Arbeitslosengeld II aber noch die Miete zu zahlen haben, haben sie etwa gleich wenig Geld. Ein Student fühlt sich dabei aber nicht arm, weil er eine positive Lebensperspektive hat. Diese Perspektive fehlt dem ALG-II-Empfänger. Er fühlt sich ausgegrenzt.

Zeller: Das stimmt. Je länger man arbeitslos ist, desto mehr verliert man seine Hoffnungen. Zumal, wenn man in meinem Alter ist. Viele Arbeitgeber stellen keine Leute über 40 Jahre mehr ein. Leider haben Sie, Herr Schneider, bei Ihrer positiven Trendwende etwas vergessen zu sagen: Die spielt sich fast ausschließlich im Niedriglohnbereich und in der Leiharbeit ab, wo man sozial kaum abgesichert ist.

Schneider: Hier muss ich widersprechen. Es gibt einen großen Zuwachs auch an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Und die Gewerkschaften haben erstmals wieder für ordentliche Lohnabschlüsse gesorgt.

Zeller: Das sehe ich ganz anders. Die Politik ist gefordert und muss nun endlich dafür sorgen, dass ein Mindestlohn eingeführt wird, so wie in den meisten europäischen Ländern.

Blickpunkt: Was empfinden Sie als das Deprimierendste an Ihrer Lage, Frau Zeller?

Zeller: Man braucht viel Kraft zum Leben. Ich hole sie mir, indem ich sehr aktiv bin. Aber es bleibt die ständige Unterversorgung in den verschiedenen Bereichen, wie Wohnen, Gesundheit, Bildung, Arbeit und so weiter. Die Angst, dass Armut ersichtlich wird. Oder dass man krank wird. Wenn ich für neun Tage ins Krankenhaus käme, müsste ich von meinen 175 Euro 90 Euro Eigenanteil zahlen. Das wird wirklich schwierig und ist eigentlich unzumutbar.

Blickpunkt: Wissen das die Politiker?

Schneider: Natürlich. Die 90 Euro Eigenanteil sind ja auch die maximale Obergrenze. Die CDU wollte eine höhere Grenze, das hat die SPD verhindern können. Die 90 Euro mögen schmerzlich sein, aber ich erinnere an die amerikanischen Verhältnisse, wo 40 Millionen Menschen ohne jede Krankenversicherung sind. Wichtig ist, dass wir unser Gesundheitssystem auf die alternde Gesellschaft vorbereiten.

Zeller: Ich lebe aber in Deutschland und nicht in den USA! Und: Auch in Deutschland zieht sich der Staat aus seiner sozialen Verantwortung zurück — siehe 351 Euro Grundsicherung. Amerika soll kein Vorbild für unsere Politiker sein.

Carsten Schneider (SPD)
Carsten Schneider (SPD)
© Thomas Köhler/photothek.net
Schneider: Ist es auch nicht. Es hat bei uns Verschiebungen, aber keine Kürzungen gegeben. Von jedem eingenommenen Steuer-Euro werden 70 Prozent für den Sozialstaat ausgegeben.

Blickpunkt: Ist Frau Zeller eine typische Armutsbetroffene? Gemeinhin gelten Menschen mit keiner oder schlechter Ausbildung als besonders armutsgefährdet. Beides ist Frau Zeller nicht.

Schneider: Richtig. Es stimmt ja leider, dass ältere Arbeitnehmer schlechtere Chancen haben. Der Trend in vielen Unternehmen führte in den vergangenen Jahren zu einer radikalen Verjüngung. Ältere wurden entweder in den Vorruhestand geschickt oder sonst wie verabschiedet. Das war falsch und teilweise rächt sich das heute bereits. In vielen Unternehmen fehlen inzwischen Erfahrung und soziale Kompetenz. Erfreulicherweise erkennen dies immer mehr Betriebe.

Blickpunkt: Wenn Sie überlegen, warum Sie trotz ihrer guten Ausbildung und Berufserfahrung arbeitslos sind — was läuft aus Ihrer Sicht da falsch, Frau Zeller?

„Das Problem der Arbeitslosigkeit löst sich nicht, indem der Staat die Leute einstellt.”
Carsten Schneider

Zeller: Weil der Staat in jede Richtung spart und dadurch massiv Arbeitsplätze abbaut. Allein in Berlin sind in den letzten Jahren 450.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. In der Bildung wird eingespart, bei den Kindergärten, beim Grünflächenamt, bei der Kultur — überall. Hier spart der Staat. Erwerbslose müssen dann diese Aufgabe als 1-Euro-Jobs verrichten.

Schneider: Es ist richtig, dass es im öffentlichen Dienst in den letzten Jahren einen Abbauprozess gegeben hat, der auch notwendig war. Aber auf die Kindergärten trifft das nun gar nicht zu, Frau Zeller. Hier wie auch in anderen sozialen Bereichen gibt es wieder mehr Beschäftigung. Und ich muss Ihnen auch sagen: Wie leben nicht mehr im Sozialismus. Das Problem der Arbeitslosigkeit löst sich nicht, indem der Staat die Leute einstellt.

Zeller: Aber man kann Investitionsprogramme auflegen und dadurch gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen. Man kann längere Arbeitszeiten verhindern, Mindestlöhne einführen.

Schneider: Bei den Mindestlöhnen bin ich ganz auf Ihrer Seite.

Blickpunkt: Frau Zeller, glauben Sie noch an das, was Politiker sagen? Glauben Sie an die Selbstheilungskräfte einer sozialen Marktwirtschaft?

Zeller: Politiker reden viel, setzen aber wenig um. An die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft glaube ich weiterhin.

Blickpunkt: Wenn soziale Gerechtigkeit nicht mehr in der Masse der Bevölkerung empfunden wird, welche Konsequenzen, welche Sprengkraft für unsere Gesellschaft hat das?

Schneider: Die immer größer werdende Spreizung der Einkommen — oben immer mehr, unten weniger und in der Mitte ein großer Druck — das kann nicht gut gehen. Aber: Man kann der Politik sicher einiges vorwerfen, dennoch gibt es auch die Eigenverantwortung der Menschen. Viele von ihnen erwarten, dass man für sie etwas tut, aber sie sind selbst nicht mehr bereit, dafür auch zu kämpfen und sich etwa in den Gewerkschaften zu organisieren.

Zeller: Es stimmt: Es gibt eine Entpolitisierung der Bevölkerung. Es ist ein viel zu kleiner Kreis, der kämpft und aktiv ist. Das bedauere ich sehr.

Blickpunkt: Und was erwarten Sie von der Politik?

Inge Zeller
Inge Zeller
© Thomas Köhler/photothek.net
Zeller: Dass der rigide Sparkurs aufgegeben wird, dass die Gesetze des Sozialgesetzbuches II, wie von der Gewerkschaft gefordert, abgeändert werden und dass die Politik einsieht, dass sie endlich investieren muss.

Schneider: Das wurde nun schon 30 Jahre lang ausprobiert und hat doch nicht funktioniert. Die Folge waren immer höhere Staatsschulden. Heute geben wir im Jahr allein 42 Milliarden Euro für Zinsen aus, das ist mehr als der Verkehrs-, Familien- und Bildungsetat zusammen ausmachen. Also ist das zu kurzfristig gedacht. Ein Strohfeuer hilft uns nicht weiter. Wir müssen — auch und gerade im Interesse der jüngeren Generation — am strikten Kurs der Haushaltssanierung festhalten.

Blickpunkt: Nicht nur die Armen und Arbeitslosen klagen über ihre Lage, auch die Mittelschicht sorgt sich zunehmend vor einem sozialen Abstieg. Bricht der Politik das Vertrauen der Bürger weg?

Schneider: Das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und ihre Institutionen nimmt in der Tat ab. Die Angst vor dem Abstieg hat verheerende Wirkungen, politische wie ökonomische. Deshalb müssen wir die Stabilität der Volkswirtschaft und das Vertrauen der Bürger wieder zurückgewinnen. Gerade deshalb ist es so wichtig, bei den Staatsfinanzen solide zu sein, Einnahmen und Ausgaben aufeinander abzustimmen.

Zeller: O.K., aber die soziale Gerechtigkeit darf dabei nicht unter die Räder kommen. Es ist doch keine Frage, das Geld ist vorhanden, um höhere Sozialleistungen zu bezahlen und kinderreiche Familien besser zu unterstützen.

Blickpunkt: Kann man gegen eine gefühlte Ungerechtigkeit von Millionen von Menschen auf Dauer Politik machen?

Schneider: Zumindest ist es schwierig. Als ungerecht wird empfunden, wenn oben Manager unverschämte Gehälter undAbfindungen kassieren und unten Zehntausende Beschäftigte rausgeschmissen werden. Die Politik ist hier aber nur beschränkt handlungsfähig. Die SPD schlägt vor, durch die Begrenzung steuerlicher Abzugsfähigkeit solche Auswüchse zu begrenzen. Und mit Hilfe von Mindestlöhnen wollen wir Untergrenzen einziehen und für eine anständige Entlohnung sorgen. Aber richtig ist eben auch, dass dauerhaft Preise und Löhne nicht von der Politik, sondern vom Markt bestimmt werden. Um die Chancen vieler Menschen zu verbessern, müssen wir vor allem in Bildung und Ausbildung investieren.

„Den Kindern Fähigkeiten zu vermitteln, darf doch nicht vom Geldbeutel abhängen.”
Inge Zeller

Zeller: Das ist sicherlich richtig. In diesem Zusammenhang finde ich es zynisch, dass in der Regelleistung für Bildung null Cent vorgesehen sind. Den Kindern Fähigkeiten zu vermitteln, ihnen eine sportliche oder musische Erziehung zu ermöglichen, darf doch nicht vom Geldbeutel abhängen. Ein Kind muss sich ausprobieren dürfen. Auch das gehört zur Bildung dazu. Und es darf nicht sein, dass nur gut situierte Eltern ihren Kindern Nachhilfeunterricht geben können.

Blickpunkt: Frau Zeller, Sie werden bald 50 Jahre. Was wünschen Sie sich?

Zeller: Ein Leben in gerechterem Umfeld ohne Ausgrenzung und mit einer Zukunft für meine Tochter und mich. 

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Interview: Sönke Petersen
Erschienen am 13. August 2008

Zur Person:

Carsten Schneider, Jahrgang 1976, ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 2005 ist der gelernte Bankkaufmann aus Erfurt haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und Obmann im Haushaltsausschuss.
E-Mail: carsten.schneider@bundestag.de
Website: www.carsten-schneider.de

Inge Zeller, Jahrgang 1958, ist gelernte Diplombetriebswirtin, seit drei Jahren arbeitslos und lebt von Hartz-IV-Leistungen. Die Berlinerin engagiert sich im Erwerbslosenausschuss der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und im Netzwerk gegen Armut und Ausgrenzung.
http://erwerbslose.berlin.verdi.de


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