Getreue Mfs-Mitarbeiter zerkleinerten gerade 40 Millionen Dokumente und verpackten sie in Säcke, da stürmten vor 15 Jahren die DDR-Bürger die Gebäude der Staatssicherheit mit dem Ruf "Ich will meine Akte sehen". Im Januar 1990 schafften sie es, die Räume zu besetzen. Da die Reißwölfe ausfielen, konnten die Mitarbeiter einen Teil der Dokumente nur per Hand zerreißen - für die Rekonstruktion ist das heute ein echter Glücksfall. Die der Vernichtung entgangenen Akten wurden an den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), die so genannte "Gauckbehörde", übergeben, die nun Birthler-Behörde heißt. Heute, 15 Jahre später, sind 58 Prozent der Akten immer noch nicht aufgearbeitet.
Die langen Flure haben zwar vor kurzem einen neuen, bunten Farbanstrich bekommen. Aber das Reinigungsmittel, das dem Besucher in die Nase steigt, stammt noch unverkennbar aus DDR-Zeiten. Ein stechender Geruch durchzieht die Flure des Bürohauses am Berliner Alexanderplatz, so ganz ohne den Reiz aromatisierter Westprodukte. In den sanierten Stockwerken darüber wird ein großes Stück der Deutschen Demokratischen Republik konserviert: die Geschichte der Staatssicherheit, die Schicksale ihrer Opfer und die Handlungen ihrer Täter. Sie alle verbergen sich hinter bürokratischen Abkürzungen und penibel dokumentierten "Vorgängen".
Seit vier Jahren leitet die ehemalige Bürgerrechtlerin und Grünen-Politikerin Marianne Birthler ein Amt, dessen 2.400 Mitarbeiter in der Berliner Zentrale und in 14 Außenstellen den Antragstellern ausbreitet, was die Stasi in fast 40 Jahren über sie gesammelt hat. Im Auge eines der größten Überwachungs-Instrumente der Geschichte gab es keinen blinden Fleck, kein Bereich des öffentlichen und privaten Lebens blieb unbeobachtet. 91.000 Mitarbeiter arbeiteten 1989 hauptamtlich bei der Stasi. Doch nahezu allwissend machten den Geheimdienst erst die rund 175.000 Inoffiziellen Mitarbeiter (IM): Ehemänner spionierten ihre Frauen aus, Lehrer ihre Schüler und Arbeitskollegen einander. Bis heute gehen jedes Jahr rund 90.000 Anträge von Betroffenen bei der Bundesbeauftragten zur Akteneinsicht ein. Dieses dunkle Erbe der DDR zu rekonstruieren und zu verwalten, das ist die Hauptaufgabe der "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" (BStU). Für ihre Arbeit gibt es keine geschichtlichen Vorbilder.
Anfangs war es schwer, die verschiedenen Gruppen der Birthler-Behörde unter einen Hut zu bringen. Bis heute teilen sich die Behörden-Mitarbeiter in fünf Gruppen auf. Zunächst sind da die Ex-Mitarbeiter anderer DDR-Ministerien, die sich in den Winkeln der untergegangenen Bürokratie auskennen. Dann Oppositionelle, ehemalige politische Gefangene und schließlich hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit. Heute sind noch zwölf Ex-Stasi-Mitarbeiter in Diensten der Behörde, die das Insider-Wissen haben, um das System Staatssicherheit zu verstehen. 94 Prozent der Birthler-Beschäftigten stammen aus Ostdeutschland. Probleme hätte früher jedoch eher die fünfte Gruppe gemacht - die sechs Prozent Westdeutschen: "Diese Kollegen kamen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Die Angewohnheit der Bayern, zum Mittagessen Bier zu trinken, kam bei der Ausgabe der Akten nicht gut an", sagt ein leitender Mitarbeiter. "Ebenso wenig wie Karneval feiernde Rheinländer mit roten Pappnasen, die unseren Besuchern die Krawatten abschnitten." West- und Ost-, Opfer- und Täter-Mentalitäten friedlich zu vereinen, das ist aus Sicht vieler Behördenmitarbeiter eine große Leistung von Joachim Gauck, dem ersten Behördenchef.
Die Zukunft der vom Bund finanzierten 100-Millionen-Euro-Behörde sieht deren Sprecher Christian Booß optimistisch: "Nur das Wie der Weiternutzung wird diskutiert, nicht das Ob. Forderungen nach einer Schließung habe ich seit Jahren nicht mehr gehört." Doch auch Booß kann nicht leugnen, dass ein eingebauter "Selbstzerstörungsmechanismus" für das langsame Verschwinden der Birthler-Behörde sorgt: Jährlich erhält sie 1,5 Prozent weniger Etat. Neueinstellungen gibt es seit zehn Jahren nicht, gleichzeitig gehen immer mehr Mitarbeiter in den Ruhestand. Zudem läuft Ende 2006 die Möglichkeit von Stasi-Überprüfungen im Öffentlichen Dienst aus. Mehr als die Hälfte aller Anträge auf Akteneinsicht haben Behörden gestellt, um ihre Mitarbeiter auf Stasi-Verstrickungen zu durchleuchten.
Die Aufmerksamkeit vieler Beobachter richtet sich auf die braunen Papiersäcke mit den 600 Millionen Aktenschnipseln. Was Stasi-Mitarbeiter in allen Bezirksstellen im Wende-Winter 1989/90 hektisch schredderten und zerrissen, birgt vermutlich noch viele Schicksale. In den Papiersäcken liegen auch zerrissene Dokumente der wichtigen Hauptabteilung XX des MfS, zuständig für die Bespitzelung der Bereiche "Staatsapparat, Kirche, Kultur, Untergrund". Seit neun Jahren setzen 25 Außenstellenmitarbeiter in Zirndorf bei Nürnberg die Papierberge in mühsamer Handarbeit zusammen. Bis heute haben sie den Inhalt von knapp 300 Säcken wieder zusammengesetzt.
Zu langsam, befanden die Behörde und viele Bundestagsabgeordnete. Die Gesellschaft für beleglose Dokumentenbearbeitung (GbD) bekam nach einer Ausschreibung im Jahr 2003 den Zuschlag, die zerrissenen Blätter Computer gestützt binnen fünf Jahren wieder zu Aktenseiten zusammenzufügen. Doch die Lufthansa-Tochter darf bis heute nicht mit ihrer Arbeit beginnen, denn bewilligt hat der Innenausschuss des Bundestages die voraussichtlich 50 bis 60 Millionen Euro Kosten dafür bislang noch nicht. Wenn sich daran nichts ändert, hat die Birthler-Behörde noch lange mit ihrem Akten-Puzzle zu tun. Die Behörde hat einmal nachgerechnet: etwa 300 bis 500 Jahre.