Die Wächter über den wahren Glauben greifen sogar noch weiter in die persönlichen Freiheiten der Bürger ein. Ein Iraner darf nicht jedes Buch lesen, das ihm gefällt. Auch Fernsehen und Internet werden zensiert. Satellitenfernsehen ist verboten. Soweit das Gesetz. Das normale Leben im Iran hat damit allerdings immer weniger zu tun. Experten glauben inzwischen, dass der Iran reif für einen inneren Wandel ist. Einen Wandel auf amerikanische Weise wollen die meisten Iraner jedoch nicht.
Durch Irans Hauptstadt Teheran zu gehen ist vermutlich so ähnlich, wie als Biene in einem Bienenstock zu landen. Alles drängt, alle drängeln. Und doch scheint das Ganze einer inneren Ordnung zu folgen. Die Menschen, die sich zu Hunderten über den Bürgersteig bewegen, gehen offenbar alle einer sinnvollen Aufgabe nach: Mädchen in Schuluniformen, mit Tüten bepackte Frauen, Männer, die, selbst wenn sie an ihrem Verkaufsstand, in dem kleinen Laden oder am Tresen ihres Handwerksbetriebes niemanden bedienen, niemals gelangweilt herumstehen. Teilnahmslosen oder verwahrlosten Bettlern, wie man sie beispielsweise in der ägyptischen Hauptstadt Kairo an nahezu jeder Straßenecke findet, begegnet man im Iran überhaupt nicht.
Mit den wirtschaftlichen Verhältnissen allein lässt sich dieser Unterschied zu anderen arabischen Ländern nicht begründen. Im Iran beträgt das Bruttosozialprodukt 1.680 Dollar pro Kopf, in Ägypten 1.530 Dollar. Beide Völker sind also nicht sonderlich reich, aber es kommt anscheinend auf die Haltung im Leben an. Die Iraner sind grundsätzlich lebenslustig und temperamentvoll, und genau das macht ihre positive Kraft aus. "Wir sind eben keine Araber", erklärt mir ein Iraner diesen Mentalitätsunterschied mit lapidaren Worten.
Nicht aus einem hypertrophierten Nationalismus und der damit verbundenen Kulturarroganz, sondern aus ihrer inneren Kraft heraus streben die Bewohner des Irans nach Freiheit. Nicht alle Frauen würden ihre Kopftücher und die knielangen, die Figur verhüllenden Gewänder gegen westliche Kleidung eintauschen, falls die strenge islamische Kleiderordnung eines Tages abgeschafft würde. Viele Frauen, darunter auch manche jüngere, finden die schwarzen oder dunkelbraunen Tücher sogar schön. Eine ansonsten in ihrem Habitus eher rebellisch wirkende Teheraner Studentin sagt: "Wenn man ein Kopftuch hat, dann betont es das Gesicht. Außerdem sieht schwarz gut aus und macht schlank." Aber die jungen Frauen wollen anziehen, wonach ihnen gerade der Sinn steht, und nicht unbedingt das, was das islamische Gesetz ihnen vorschreibt. Seit einiger Zeit testen die jungen Leute täglich aufs Neue ihre Grenzen aus. Die Kopftücher rutschen aus der Stirn, Hosen werden kürzer und bunter. Der so genannte Manteau, ein knie- oder knöchellanger Umhang, wird enger und damit körperbetonter. Und bei privaten Feiern in der Hauptstadt sind schon längst ultrakurze Miniröcke und Pumps angesagt.
Doch obwohl die Iraner es vor allem in den vergangenen zwei Jahren geschafft haben, den Alltag zu ihren Gunsten zu verändern und sogar die strikte Geschlechtertrennung aufzulockern, ist all das Beschriebene immer noch offiziell verboten. Mit regelmäßigen Schauprozessen, öffentlichen Auspeitschungen oder sogar Hinrichtungen demonstrieren die herrschenden Mullahs: Wer sich zu viele individuelle Freiheiten herausnimmt, kann dafür hart bestraft werden. Das Sagen haben immer noch wir!
Die Bevölkerung versucht indessen, dem Treiben ihrer Machthabenden möglichst gelassen gegenüber zu stehen. Sie sehnt sich zwar in ihrer großen Mehrheit nach einem Ende des Überwachungs- und Unterdrückungsstaates, aber einen radikalen gesellschaftlichen Wandel wollen dennoch nur sehr wenige. "Wir wissen genau, was die Revolution für uns bedeutet", erzählt ein 40-jähriger Iraner. "Es ist noch nicht so lange her, dass wir die islamische Revolution erlebt haben. Tausende von unseren Freunden mussten ihr Heimatland verlassen. Zu viele von ihnen sind damals gestorben."
Das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ist von ähnlicher Ambivalenz. Die Hauswand der ehemaligen US-Botschaft ziert ein zynisches Graffito: Totenköpfe anstelle von Sternen. Fallende Bomben dort, wo die amerikanische Flagge normalerweise Streifen kennt. Auf offziellen Propagandaplakaten heißt es zwar "Nieder mit den USA!" Doch ein iranischer Sozialwissenschaftler hat im vergangenen Jahr eine Umfrage durchgeführt, wonach sich rund 70 Prozent der Bevölkerung des Landes die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten wünschen. Nachdem die Studie öffentlich bekannt geworden war, verhafteten die Mullahs den Wissenschaftler. Doch gerade die Studentenschaft lässt sich durch derartige Verbreitung von Angst nicht entmutigen. "Es wird sich hier alles ändern", sagt ein junger Student. "Es gibt keinen Weg an richtigen Reformen vorbei. Aber alles muss langsam gehen und von allein, nicht mit Gewalt." Dementsprechend ist auch die Stimmung in Bezug auf einen möglichen Einmarsch von US-Truppen in den Iran. Eine Studentin fasst die vorherrschende Stimmung zusammen: "Natürlich wollen wir hier einen Wandel. Aber keinen amerikanischen Wandel!"
Ähnlich wie in Bezug zu den Nachbarländern, nährt sich die ablehnende Haltung auch in diesem Fall aus Nationalstolz, Kulturarroganz und dem Gefühl eigener Stärke. Die Iraner sind nämlich nicht nur anders als die Araber. Sie sind auch völlig anders als die Amerikaner. "Ich mag die Amerikaner zwar, weil sie so frei sind und frei leben können", sagt ein 20-jähriges Mädchen. "Aber sie sind immer irgendwie zu laut. Und außerdem trinken sie zuviel." Und die entschlossene und mutige, aber dennoch zurückhaltende und leise Art, wie die 20-jährige ihre Meinung sagt, ist womöglich das beste Beispiel für die besondere Mentalität und das Lebensgefühl, das im Iran vorherrscht: ein wenig wie im schon erwähnten Bienenstock - hektisch, lebensfroh, bisweilen auch chaotisch und dennoch stets einer eigenen, inneren Ruhe und Logik folgend.
Einer Ruhe, wie man sie erstaunlicherweise auch angesichts der harten Töne aus Washington im Land vorfindet. So dass die Drohungen eines möglichen Krieges gegen den "Vorposten der Tyrannei", wie es die neue amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice ausdrückte, die iranische Bevölkerung eher zusammenbringen: Reformer wie Hardliner. Eine kaum beabsichtigte Wirkung.