Nach dem Regierungsantritt von Bashar al-Assad im August 2000 hatten Beobachter auf einen "Frühling in Damaskus" gehofft. Doch von den ehrgeizigen Reformvorhaben des Präsidenten ist nur wenig zu spüren. Während die Massen verarmen, erfreut sich eine kleine Oberschicht an westlichem Luxus. Die Männer im Caféhaus nahe des Souk al-Hamidiyye, des größten Basars im Zentrum von Damaskus, sind sich einig: Mutig sei es, dass die Iraker Widerstand gegen die amerikanischen Besatzungstruppen leisteten. Und mutig sei es auch, dass ihr Präsident Bashar al-Assad das genauso sähe.
Dieser hatte bei einem Treffen mit seinem Amtskollegen Muhammad Khatami in Teheran erklärt, erst die Aufständischen im Irak hätten mit ihrem Widerstand gegen die Besatzungstruppen Amerika dazu gezwungen, dem irakischen Volk endlich ein Minimum an Rechten zu gewähren. Mutig sei Bashar al-Assad deshalb, weil doch kein Staatsmann im Nahen Osten sonst den Amerikanern Paroli böte. Würden die irakischen Rebellen nicht täglich ihr Leben im Kampf gegen die verhassten Amerikaner riskieren, meint einer, wäre auch Syrien längst "befreit" worden.
Noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand in Syrien so unverkrampft über Politik gesprochen, auch nicht, wenn diese nur die Meinung des Regimes widerspiegelte. Seit dem Amtsantritt des jungen Präsidenten vor vier Jahren ist der von vielen prognostizierte "Frühling in Damaskus", der den Syrern Meinungsfreiheit, Pluralismus und Demokratie bringen sollte, zwar weitgehend ausgeblieben, doch scheint die Atmosphäre heute unverkrampfter als zu Lebzeiten von Hafez al-Assad, der über 30 Jahre unumschränkter Herrscher des Levantestaates war.
Wirtschaftlich geht es trotz US-Sanktionen leicht bergauf mit Syrien, seit dem Amtsantritt Bashars setzt die Regierung verstärkt auf die Liberalisierung von Markt und Wirtschaft. Zahlreiche Straßenprojekte, Hotelneubauten und Großbaustellen wie die zum Wiederaufbau des alten Hedjaz-Bahnhofs mit angegliederter Shoppingmall zeugen vom Aufbruchswillen in Damaskus. Viele Geschäftsleute hoffen zudem auf einen weiteren Schub der Privatwirtschaft, wenn die für 2010 in Aussicht gestellte Freihandelszone zwischen der EU und den Mittelmeerländern, die den Austausch von Waren mit Europa erheblich erleichtern würde, umgesetzt wird. Fast vollständig sind inzwischen die alten Konsum-Läden in DDR-Manier verschwunden, wo einheimische Waren preiswert zu erstehen waren. An ihrer Stelle stehen hochelegante Läden mit High-Tech-Produkten, die sich aber kaum jemand leisten kann. Laptops, Fotohandys, Satellitenfernsehen und Mobiltelefone, gegen die sich der alte Herrscher Hafez al-Assad jahrelang gestemmt hatte, haben auch Einzug in Syrien gehalten. Beim Anblick modisch gekleideter junger Männer, die ihre Haare mit Gel gestylt zu Pferdeschwänzen nach hinten gebunden tragen, denkt man unwillkürlich an die Jugend in Tel Aviv. Auch dort scheint niemand ohne die obligatorische verspiegelte Sonnenbrille vor die Tür zu treten.
Die riesigen Statuen und überdimensionalen Konterfeis des Präsidentenvaters an den Hauswänden, wie sie auch Saddam Hussein im Irak liebte, sind inzwischen weitgehend aus der Stadt verschwunden. Der junge "Thronfolger" Bashar mag keinen Führerkult. Seine Präsenz im Stadtbild von Damaskus ist bescheiden. Angesichts der Spuren, die sein Vater in Form einiger Denkmäler im Land hinterlassen hat, ist man geneigt zu fragen, wer das Land überhaupt regiert, so wenig macht Bashar al-Assad visuell auf sich aufmerksam.
Im Caféhaus schaut jedenfalls noch der alte Assad von riesigen Wandbildern der 70er-Jahre auf die debattierenden Männer herab. Diese machen sich gerne über Amerikas alten und neuen "dummen Präsidenten" lustig und schimpfen über das arrogante und brutale Vorgehen seiner Truppen im Irak. "Die Araber behandeln sie doch bloß wie Vieh", empört sich einer. "Was haben die Amerikaner für Unheil im Irak angerichtet! Zwölf Jahre lang mussten unsere Brüder und Schwestern dort unter dem Embargo leiden, zwölf Jahre bekamen sie keine Medikamente und nicht genug zu essen." Spätestens seit die Folterbilder irakischer Häftlinge aus dem Gefängnis Abu Ghreib über die TV-Stationen in Syrien ausgestrahlt wurden, ist die Stimmung aufgeheizt: "Bush hasst die Araber, und Bush hasst den Islam...!", meint einer die Motive amerikanischer Außenpolitik erkennen zu können.
Kein Wunder, dass der dynamisch wirkende Präsident Bashar, der mit seiner Kritik an Israel und Amerika nicht spart, populär beim Volk ist. Nach Israels Luftangriff auf ein vermeintliches Ausbildungslager palästinensischer Extremisten nahe der Hauptstadt im Oktober 2003 hatte der Präsident keinen Zweifel daran gelassen, dass Syrien zurückschlagen werde, sollte Israel die Grenzen überschreiten. Dass sich Israel zu dem Attentat im Herbst 2004 auf Izzedin asch-Scheikh Khalil, angeblich einem führenden Mitglied der Hamas in Syrien, nicht öffentlich bekannt hatte, könnte mit dieser Drohung zusammenhängen. Starke Töne kommen beim Volk an. Und auch die Äußerungen über die Aufständischen im Irak finden uneingeschränkten Anklang bei den Männern, wobei diese zwischen Widerstand und Terror, den sie allesamt ablehnen, sehr wohl zu unterscheiden wissen. Dass Syrien als "Schurkenstaat" offiziell die Rebellen im Nachbarland unterstützen würde, wie dies Iraks provisorischer Präsident Allawi behauptet hatte, glaubt man indes nicht. Aber warum sollte man diejenigen, die in den Irak gingen, um gegen die Besatzer zu kämpfen, auch aufhalten, fragt einer der Männer im Café.
Kritik am Präsidenten, der die Politik Amerikas und Israels anprangert, geziemt sich weder im Caféhaus noch sonst. Als ein etwa sechs Jahre altes Mädchen ins Café kommt und die Hände bettelnd aufhält, raunt einer der Männer: Wichtiger als starke Reden seien Lösungen für die Probleme im eigenen Land.
Und die wachsen seit Jahren. Mit dem Fall des Sozialismus, der in Syrien offiziell zwar noch Programm, de facto aber tot ist, sind die Preise dramatisch angestiegen. Zwar werden Grundnahrungsmittel oder auch der öffentliche Nahverkehr subventioniert, doch bei einem stagnierenden Durchschnittseinkommen von rund 100 Euro ist alles andere, was das Leben lebenswert macht, für die allermeisten zu teuer geworden.
Usama, ein Taxifahrer, erzählt, dass er mit seinem Einkommen gerade auskomme, vorausgesetzt er verkaufe nach Dienstschluss noch ein paar seiner selbstgefertigten Halskettchen und Armringe. Sich selbst zählt er zu den Besserverdienenden, zu einer Art "Mittelschicht", wie er meint, zu Leuten, die eben nicht ganz arm seien. Doch Theater- oder Kinobesuche sind auch für ihn und seine zwei kleinen Kinder nicht mehr drin. Das Einkommen reicht gerade für das Nötigste: einfache Mahlzeiten, Kleidung und Schuhe für die Kinder. Eine Satellitenschüssel für den Fernseher hat er sich vor zwei Jahren geleistet. Seitdem sieht er in seiner wenigen Freizeit die unzähligen Seifenopern, die das arabische Fernsehen ausstrahlt, und staunt über all die Waren, die in den Werbeunterbrechungen angepriesen werden und eine schöne neue Welt vorgaukeln: Mobiltelefone, Mikrowellen, einen schnellen Internetzugang und dazu noch schnellere Autos. Alles ist in Syrien jetzt zu haben, doch leisten kann er sich von den Errungenschaften der westlichen Welt nichts.
Tatsächlich verschwindet in Syrien die Mittelschicht zusehends. Mehr und mehr klafft die Schere zwischen arm und reich auseinander. Während in den wohlhabenden Vierteln nicht selten Porsche Boxster und Mercedes S-Klasse parken, sieht man nachts in den ärmlichen Vierteln der Stadt Straßenkinder vor Hauseingängen übernachten. Tagsüber betteln sie Passanten an und putzen ihnen die Schuhe, eine Arbeit, die noch vor wenigen Jahren ausschließlich Erwachsenen vorbehalten war. Damals galt das als eine ehrenvolle Aufgabe, mit der man seinen Lebensunterhalt gut bestreiten konnte. Anstatt zur Schule zu gehen, laufen viele Kinder tagsüber mit einer Waage über die Bürgersteige, in der Hoffnung, dass sich einer erbarmen werde, für ein paar Cent sein Gewicht zu erfahren. Vor allem Flüchtlingskinder aus dem Irak sind es, die so zum Unterhalt ihrer Familien mit beitragen müssen. Aber auch ältere Menschen gehören zu den Verlierern der neuen Freiheit und Konsumwelt. Fast jeden Abend bietet eine alte Frau an einer der verkehrsreichsten Straßen der Stadt ihre abgetragenen Kleider, Bücher und Haushaltswaren zum Kauf an. Erst wenn es dunkel wird, kommt sie zur "Straße der Revolution", wo schon andere gleichaltrige Frauen stehen. Sie schämt sich, hier in der Kälte ihre Habseligkeiten zu verscherbeln, aber von ihrer bescheidenen Rente kann sie nicht mehr leben. Verkauft wird nur wenig, denn die Konkurrenz ist groß. Noch billiger bieten zumeist illegale Einwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken ihre Waren an. Im christlichen Viertel Babtouma stehen sie oft die ganze Nacht auf den Bürgersteigen und hoffen, sich ein paar syrische Pfund verdienen zu können.
Zumindest nach außen hin wendet sich die Gesellschaft auch zunehmend dem Islam zu, wie die Beliebtheit "islamischer Kleidung" und das Tragen des Kopftuchs zeigen. Vor wenigen Jahren trug kaum eine Frau den Schleier, heute ist selbst die Burka, wie sie in Afghanistan getragen wird, keine Seltenheit. Kaum vorstellbar, dass bis in die 70-er Jahre der Minirock in Syrien en Vogue war. Die gewandelte Mode muss nicht unbedingt Ausdruck von Religiosität sein, sondern dürfte pragmatische Gründe haben: Eltern, die ihre Kinder "islamisch" kleiden, müssen sich nicht dem Wettlauf um schickere Klamotten stellen. Mit knöchellangen Mänteln ist man stets korrekt gekleidet.
Auch alkoholische Getränke wie der traditionelle Anisschnaps Arak, der früher überall in den Restaurants angeboten wurde, werden in der Öffentlichkeit kaum noch getrunken. Softdrinks sind in, Arak und Whiskey bleiben den Schurkenrollen in den zahlreichen TV-Seifenopern vorbehalten. Der politische Beobachter Ghazi Hussein, ein in Deutschland habilitierter Völkerrechtler, glaubt allerdings nicht, dass der Islamismus in Syrien eine Chance hat. Zwar suchten heute mehr Menschen Halt in der Religion, doch die Syrer seien für islamische Parolen wenig empfänglich. Zudem seien die Verfolgungen islamistischer Gruppen in den 80-er Jahren noch im Gedächtnis der Menschen. Damals hatte Hafez al-Assad einen Aufstand in der Stadt Hama blutig niederschlagen lassen. Trotz einer im November 2001 erlassenen Amnestie für politische Gefangene verbüßen laut "amnesty international" aber noch hunderte Aktivisten von einst ihre lebenslangen Haftstrafen hinter hohen Gefängnismauern. Dass Islamisten auch in Syrien präsent sind, zeigen regelmäßige Ausweisungen vor allem ausländischer Glaubenskrieger durch die syrische Regierung. Auch die Besucher in den wenigen, staatlich kontrollierten Internetcafés der Stadt klicken gern islamistisch gefärbte Websites an. Im Zeitalter der Globalisierung braucht es keine Jihad- oder Hamasvertretungen mehr, die die Regierung auf Drängen Amerikas aufgelöst hatte, um islamistisches Gedankengut zu transportieren.
Im Goetheinstitut erzählt eine Deutsche, die seit über 30 Jahren im Land lebt, dass die Entwicklung in Syrien vielen Ausländern Angst bereite. Sollte es der Regierung nicht gelingen, die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in den Griff zu bekommen, könnten indes islamische Heilsversprecher auch im Levantestaat auf offene Ohren stoßen.