Als ich Ihre Einladung erhielt, heute vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen, war ich tief bewegt, auch weil mir bewusst wurde, welche hohe Ehre, aber zugleich welch hohe Verpflichtung mir damit zugefallen ist.
Am 27. Januar 1945, heute vor 60 Jahren, war ich noch nicht frei. Da hatte ich schon drei KZs hinter mir, Sosnowitz, Annaberg und Ottmuth. Als Häftling Nummer A-5592 des vierten KZ, Auschwitz-Blechhammer, wurde ich am 21. Januar 1945 mit 4.000 anderen Kameraden bei minus 20 Grad auf den Todesmarsch über Schlesiens verschneite Straßen geschickt. Es gab keine Verpflegung, dafür aber wegen jeder Kleinigkeit Schläge. Vielen Kameraden erfroren Hände, Ohren und Zehen. Wer nicht marschieren konnte, wurde erschossen. Nur die Hälfte von uns erreichte das KZ Groß-Rosen.
In den 10 Wochen zwischen Ende Januar und dem 8.Mai 1945 überlebte ich: den Todesmarsch von Auschwitz, die Hölle des KZ von Groß-Rosen, das KZ Buchenwald, die furchtbare Maloche im unterirdischen Stollen des KZ Langenstein im Südharz, wo die Lebenserwartung nur vier Wochen betrug, den Todesmarsch von Langenstein Mitte April, die Flucht, die Gefangennahme, die misslungene Erschießung durch Volkssturm-Männer, schließlich die Rettung durch die amerikanische Armee. Am 8. Mai 1945 feierte ich, nun uniformierter und bewaffneter Dolmetscher der US-Army, mit meinen Rettern das Kriegsende und auch meinen 21.Geburtstag. Diese doppelte Feier werde ich nie im Leben vergessen.
Zwischen November 1944 und Mai 1945 wurden etwa 700.000 Häftlinge, 200.000 von ihnen Juden, bei der Räumung und Liquidierung der KZs in Polen und Deutschland, auf etwa hundert Todesmärschen durch ganz Deutschland getrieben. Es wird geschätzt, dass über die Hälfte von ihnen umgekommen ist. Sie wurden erschossen, in Scheunen verbrannt, sind verhungert oder an Seuchen verstorben. Der damals 14-jährige Junge Josef Buchmann überlebte den Todesmarsch von Auschwitz und dann die Typhusepidemie in Bergen-Belsen. Ich traf ihn dort im Juni 1945, noch in amerikanischer Uniform, auf der Suche nach meiner Familie.
Bis heute gibt es keine Gesamtdarstellung dieser sich auf Deutschlands Straßen abspielenden tausendfachen Tragödien, dieser letzten Konvulsionen des untergehenden Dritten Reiches. Ich hoffe sehr, dass die Forschung sich dieses Themas jetzt annehmen wird.
Der weithin unbekannt gebliebene Widerstand der Juden Europas und die Beschuldigung, sich nicht gewehrt zu haben, waren die Motivation für meine Forschungen und Bücher. Diese tapferen Widerstandskämpfer wurden in der von mir konzipierten Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt im Mai 1995 vorgestellt. Meine Bücher sind auch Epitaphe auf nicht vorhandene Grabsteine vieler jüdischer Widerstandskämpfer.
Die Häftlinge des Sonderkommandos in Auschwitz planten einen gleichzeitigen Aufstand und Zerstörung aller Krematorien. Als am 7. Oktober 1944 Sonderkommando-Häftlinge des dritten und vierten Krematoriums vergast werden sollten, brach eine spontane Revolte aus. Die Häftlinge haben die SS mit Äxten und Steinen angriffen und setzten ein Krematorium in Brand. Eine sofort alarmierte Einheit der SS ermordete die Häftlinge gruppenweise durch Genickschuss.
Die Häftlinge des Sonderkommandos am Krematorium 1 schlugen auch los. Viele Häftlinge flüchteten, töteten dabei drei SS-Leute und verwundeten zwölf schwer, aber sie hatten keine Chance. 451 von 661 Häftlingen der Sonderkommandos wurden noch an diesem Tag erschossen.
Am 6. Januar 1945 wurden vier Heldinnen des Aufstandes von Auschwitz gehängt. Dies waren die letzten Exekutionen in Auschwitz.
Die polnischen Jüdinnen Rózia Robota, Regina Safirsztajn, Ester Wajcblum und Ala Gertner entwendeten monatelang Dynamit für die Sprengung der Krematorien.
Hier noch ein grausiges Postskriptum über die Massenmörder von Auschwitz. Himmler hat am 26. November 1944 befohlen, alle Gaskammern und Krematorien von Auschwitz zu vernichten, um die Spuren der Verbrechen zu verwischen. Jedoch wurden die Vergasungs- und Verbrennungs-Installationen Ende November 1944 sorgfältig abmontiert und ins KZ Mauthausen transportiert. Danach wurde die Firma Topf in Erfurt aufgefordert, Pläne für den Bau neuer Krematorien mit zehn Einäscherungsöfen plus Anlagen aus Auschwitz zu erarbeiten. Nach den am 15. Februar 1945 (!) eingereichten Plänen, d.h. zehn Wochen vor Kriegsende, sollten die neuen Krematorien auf einer Bahnstrecke in der Nähe des KZ Mauthausen errichtet werden.
Wer sollte dort vergast und verbrannt werden? Etwa die überlebenden Häftlinge der Todesmärsche? Wollten die Massenmörder noch die letzten Gefangenen in den Untergang des Dritten Reiches mitreißen?
Schon vor Jahren musste ich mich mit einigen Historikern streiten, die den fast aussichtslosen und heroischen Widerstand der Juden in Europa verleugneten. Ein Berliner Politologe gab den ermordeten deutschen Juden den postmortalen Ratschlag, sich einfach nicht bei den Sammelplätzen zur Deportation einzufinden. "Sitzstreik nennen wir das heute. Die Deportationen wären faktisch zusammengebrochen, physisch undurchführbar geworden."
Ein Historiker, der den Holocaust im amerikanischen Exil überlebte, stellte die folgende These auf: "Die jüdischen Opfer stürzten sich - gefangen in der Zwangsjacke ihrer Geschichte - physisch und psychisch in die Katastrophe. Die Vernichtung der Juden war somit kein Zufall."
Dieser Verleumdung der Opfer widersprach, im Gegensatz zu anderen Ländern, in Deutschland niemand, außer mir.
Der Deutsche Bundestag hat mit Wirkung vom 1. Dezember 1994, mehrere Paragrafen des Strafgesetzbuches novelliert, darunter den Paragrafen 130 Ziffer 2(3) betr. Volksverhetzung, nach welchem "mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft wird, wer die NS-Verbrechen...billigt, leugnet oder verharmlost". Wegen dieses Gesetzes müssen Verbreiter der so genannten "Auschwitz-Lüge", wie Irving, Faurisson, Garaudy, Zündel, Leuchter und viele andere einen weiten Bogen um Deutschland machen. Manche einheimische Volksverhetzer, wie der RAF-Terrorist und neonazistische Antisemit Mahler sowie der NPD-Führer Deckert landen im Gefängnis. Es tut mir leid, dass es dieses Gesetz geben muss, ich bin froh, dass es da ist.
Der fabrikmäßige Massenmord von Juden wird unter der Metapher Auschwitz zu vielen Zwecken missbraucht. Das Postulat "Nie wieder Auschwitz" wird damit ausgehöhlt.
In dem Stück "Die Ermittlung" von Peter Weiss mit Texten aus dem Auschwitz-Prozess wird die Identität der jüdischen Opfer beschwiegen. Sie fallen ins schwarze Loch der Anonymität. Der Historiker James Young schrieb dazu: "Das Stück von Weiss ist so judenrein, wie der größte Teil Europas nach dem Holocaust."
Am 13. Februar 1990, nur neun Wochen nach dem Fall der Mauer, sprach sich der Nobelpreisträger Grass gegen die Wiedervereinigung Deutschlands aus. In einer Vorlesung in der Frankfurter Universität hat er den Zivilisationsbruch Auschwitz mit dem deutschen Verlangen nach Wiedervereinigung konfrontiert. Er sagte am Schluss: "...auch gegen ein Selbstbestimmungsrecht, das anderen Völkern ungeteilt zusteht, gegen all das spricht Auschwitz, weil eine der Voraussetzungen für das Ungeheure, neben den älteren Triebkräften, ein starkes, das geeinte Deutschland gewesen ist."
Mein Einspruch gegen diese falsche Einschätzung ging im Beifall für Günter Grass unter.
Der Schweizer Schwindler Doessekker alias Wilkomirski hat mit seinem Buch von 1995, das in 12 Sprachen übersetzt wurde, vorgegeben, als Säugling Auschwitz überlebt zu haben. Erst 1998 platzte dieser Betrug, den man als ein Produkt des Schoa-Business bezeichnen kann.
Die militärische Intervention in Bosnien und im Kosovo ist von mehreren Politikern mit der Metapher vom drohenden Auschwitz begründet worden.
Anlässlich eines Besuches bei Arafat im März 2002 sagte der portugiesische Nobelpreisträger Saramago, dass der "Geist von Auschwitz" über Ramallah schwebe. Auf die Frage eines Journalisten, wo sich die Gaskammern befinden würden, antwortete er, dass in Ramallah das gleiche geschehe wie in Auschwitz.
Der Begriff "Widerstand" wird meist auf Aktionen beschränkt, die auf die Beseitigung des Naziregimes gerichtet waren, aber auch die Rettung der Juden war aktiver und dazu oft erfolgreicher Widerstand. Deshalb ist es wichtig, über die fast unbekannten, unbesungenen Helden des deutschen Rettungswiderstandes zu forschen und zu berichten.
Im September 1944 lebten in ganz Deutschland nur noch etwa 14.000 Juden, von früher 550.000. Etwa 10.000 von ihnen haben sich zum Untertauchen entschlossen. Sie haben sich selbst "U-Boote" genannt. 1.400 Juden überlebten im Untergrund.
Die eine Woche dauernde Demonstration der mutigen christlichen Frauen Ende Februar 1943 in der Rosenstraße in Berlin führte zur wundersamen Rettung ihrer jüdischen Ehemänner.
Vom Ende der 50er Jahre bis 1963 wurden auf Initiative des Berliner Innensenators Joachim Lipschitz 738 Personen als "Unbesungene Helden" geehrt. Diesen Begriff prägte Kurt R. Grossmann in seinem 1957 in Berlin erschienenen gleichnamigen Buch. Als Lipschitz im Dezember 1961, erst 43 Jahre alt, starb, wurde es still um diese Helden des deutschen Rettungswiderstandes.
Der 1923 in Berlin geborene US-Leutnant und Soziologe Manfred Wolfson versuchte 1965 von Frankfurt aus eine umfangreiche Studie zur Retterforschung zu organisieren, die jedoch wenig Interesse und keine akademischen oder sonstige Sponsoren fand. Er kehrte enttäuscht 1968 in die USA zurück, wo er 1987 starb.
Im Auftrage des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin wurde im Rahmen des Projekts "Solidarität und Hilfe" unter Leitung von Dr. Beate Kosmala eine Datenbank geschaffen. Die teils umfangreichen Datensätze enthalten Namen von circa 3.000 Frauen und Männern, die an der Rettung von Juden in Deutschland, aber hauptsächlich in Berlin, beteiligt waren. Viele Retter sind längst verstorben und blieben bis heute unbekannt. Unbekannt sind auch viele der nicht geglückten Rettungsversuche.
Etwa 30 Militärhistoriker unter Leitung von Prof. Dr. Wolfram Wette sind in den letzten Jahren der Frage nachgegangen, ob es auch Soldaten gab, die sich an Rettungstaten für Juden beteiligten. Die Ergebnisse der Recherchen sind in den Büchern "Retter in Uniform" und "Zivilcourage" enthalten.
Einen von ihnen möchte ich Ihnen vorstellen. Oberleutnant Heinz Drossel rettete während eines kurzen Fronturlaubs in Berlin Günter und Margot Fontheim sowie ihre Eltern, die als U-Boote in Berlin vegetierten. Nach dem Krieg sorgte Fontheim, nun Physiker der NASA, dafür, dass Dr. Heinz Drossel in Jerusalem und in den USA geehrt wurde.
Der Frankfurter Arzt Dr. Fritz Kahl hat sich spontan entschlossen, seine früheren Patientinnen, die Schwestern Eva und Tuschi Müller, zu verbergen. Auch der 23-jährige Verlobte von Eva, Robert Eisenstädt, dem die abenteuerliche Flucht aus dem KZ Majdanek in Polen gelungen war, wurde versteckt. Die Ehefrau Margarete Kahl begleitete ihre Schützlinge auf der Bahnfahrt ins Schweizer Grenzgebiet. Zu Fuß erreichten sie die Schweiz im Februar 1943.
Leider hatten die deutschen Judenretter keine Fürsprecher, auch nicht in Jerusalem. Nur 400 Deutsche von insgesamt 20.000, wurden als "Gerechte" von Yad Vashem geehrt. Wenn man bedenkt, dass tausende Deutsche zwischen 1941 bis 1945 vielen Juden geholfen und sie gerettet haben, so muss man sich über diese Unterlassungen wundern. Ich schlage vor, dass in Jerusalem noch drei Bäume gepflanzt werden, je ein Baum kollektiv: für die deutschen Judenretter, für die tapferen Frauen von der Rosenstraße und für die Retter in Uniform.
Ich freue mich, dass meine Freunde, Dr. Beate Kosmala, Prof. Wolfram Wette, Dr. Eugen Kahl, Sohn der Retter-Familie, Dr. Heinz Drossel und Dr. Josef Buchmann heute unter uns sind.
Seit meinem achten Lebensjahr, schon als zionistischer Pfadfinder, war der Zionismus, der ein Traum von einem eigenen Judenstaat war, eine Konstante meines Lebens. Für diese Idee habe ich viele Jahre, auch als Bundesvorsitzender der Zionistischen Organisation in Deutschland gewirkt. Der Hass auf Israel und seine Menschen, die Verweigerung des Lebensrechtes des Judenstaates durch die arabisch-moslemische Welt, die Gewalt gegen Juden und ihre Institutionen, erfüllt mich mit Schmerz und Zorn.
Demgegenüber gehört die Existenz Israels in sicheren Grenzen und die Unterstützung des Judenstaates zu den Konstanten der bundesrepublikanischen Politik. Deutschland ist nach den USA der wichtigste Verbündete und Partner Israels. Das war und ist hier immer Konsens gewesen.
Die deutschen Linken haben oft an diesem politischen Konsens gerüttelt. Deshalb schrieb 1975 der bekannte Literaturhistoriker und engagierte Linke Hans Mayer: "Wer den 'Zionismus' angreift, aber beileibe nichts gegen die 'Juden' sagen möchte, macht sich und anderen etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhass von einst und von jeher."
Im gleichen Jahr 1975 verurteilte die UNO auf Betreiben des Ostblocks und der arabischen Staaten den Zionismus als Rassismus. Erst im Dezember 1991 hat die UNO diese ihre Schande beendet, indem dieser Beschluss annulliert wurde.
Der Antisemitismus und besonders dessen islamische Prägung sollte nicht alleine die Sorge der Juden sein, denn in Europa wirken Kräfte, die unsere gemeinsame Zivilisation ins Mittelalter zurückbomben wollen. Der Islam-Wissenschaftler Prof. Bassam Tibi hat darüber geschrieben: "Erst dann, wenn die deutsche Öffentlichkeit dieser Bedrohung in angemessener Weise entgegentritt, wird man davon sprechen können, dass sie die Lehren der deutschen Vergangenheit wirklich verstanden hat."
Einen großen Beitrag zur Desinformation über Israel und deren Folgen für die Juden leisten leider auch einige Medien mit ihrer einseitigen und überzogenen Kritik an Israel, wo sich über 800 Auslandskorrespondenten gegenseitig auf die Füße treten. Sie darf ich mit dem Spruch des Propheten Jesaia Kapitel 40, Vers 2 um Folgendes freundlich bitten:
Dabru el lew Jeruschalaim - Redet freundlich über Jerusalem
Ende April 2004 fand in Berlin eine Antisemitismus-Konferenz der 55 OSZE-Staaten statt. In seiner Eröffnungs-Ansprache sagte Außenminister Fischer, wie Wolf Biermann und ich Träger des Heinz-Galinski-Preises, unter anderem: "Solange sich jüdische Menschen in unseren Ländern nicht sicher, nicht wirklich zu Hause fühlen, solange Synagogen, jüdische Schulen und Kindergärten von der Polizei geschützt werden müssen, solange Politiker mit antisemitischen Ressentiments auf Stimmenfang gehen - solange müssen wir uns der Bedrohung durch den Antisemitismus gemeinsam stellen."
Hier eine persönliche Reflexion. Als ich vor über 50 Jahren die Jüdische Gemeinde in Frankfurt mitgründete, wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass unsere Synagogen und Gemeindehäuser noch heute, 50 Jahre später, polizeilich bewacht werden müssen. Gott, Jesus und Mohammed sei Dank, dass Moscheen und Kirchen dieses Schutzes nicht bedürfen.
Die Vorgänge im sächsischen Landtag bestätigen leider die Sorgen vieler Demokraten in Deutschland. War die schlechte Vorbereitung und die folgende Ablehnung des Verbotsantrags der NPD nicht ein Fehler?
Ist es nicht an der Zeit, dass deutsche Verfassungsrichter ihre Samt-Handschuhe ausziehen, wenn es sich um Feinde unserer Verfassung und Demokratie handelt?
Vor fünf Jahren stellte Bundespräsident Roman Herzog, der diesen Gedenktag im Bundestag initiierte, die besorgte Frage: Hat die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis in Deutschland eine Zukunft? Ich sage ja und hier der Beweis. Es gibt rund 180 Gedenkstätten in ehemaligen KZs, Zuchthäusern, Synagogen usw. 98 von ihnen sind große Gedenkstätten an Orten des Geschehens, die ständig geöffnet sind und pädagogische Programme durchführen. Sie werden von über 3,5 Millionen Menschen jährlich besucht. Das zweibändige, über 1.800 seitige Nachschlagewerk "Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus" enthält Beschreibungen von 6.100 Mahnmalen, Grabstätten, Gedenktafeln usw. in Ost- und Westdeutschland. Das alles bildet ein wahres, imposantes Netzwerk des Gedenkens.
In diesem Jahr feiern die "Leo Baeck Institute" zur Erforschung der Geschichte der deutschen Juden in New York, London und Jerusalem ihr 50-jähriges Bestehen. In jedem der bisher erschienenen 49 "Year Books" des LBI wird neben den mehreren Essays eine fortlaufend nummerierte Bibliographie abgedruckt, die heute mit 43.678 Titeln endet. Die deutschen Juden sind somit die am umfangreichsten dokumentierte Gemeinschaft der Welt.
Das Jüdische Museum in Berlin wurde seit dessen Eröffnung im Jahre 2001 von über 2,3 Millionen Menschen besucht. 2.000 Mikrofilme sind dort, in der Dependance des LBI-Archivs in New York, gespeichert. Sie bilden die Datenbasis des Museums. Neben dem Museum in Berlin ist das Jüdische Museum in Frankfurt das wichtigste. Außerdem gibt es zehn weitere jüdische Museen in Deutschland.
28.000 Menschen sind in 83 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit dem Gedanken der Toleranz und Freundschaft unter den Konfessionen verbunden. 48 Deutsch-Israelische Gesellschaften mit 5.000 Mitgliedern bilden ein menschliches Bindeglied zwischen beiden Ländern. In der Bibliothek "Germania Judaica" in Köln sind Hunderte von Bänden zur Lokalgeschichte der Juden in Deutschland archiviert, von Aachen bis Zittau. Nach 1945 haben viele Lokalhistoriker Geschichten der jeweiligen jüdischen Gemeinden erforscht und veröffentlicht.
Im Rahmen der seit 1958 bestehenden christlichen "Aktion Sühnezeichen" arbeiten zehntausende junge Deutsche bei 120 Projekten in 13 Ländern und leisten freiwillige Dienste in KZs, Gedenkstätten und bei der Betreuung von Holocaust-Überlebenden. Ferner gibt es jedes Jahr 20 internationale Sommerlager. Die katholische Organisation "Pax Christi" verfolgt ähnliche Ziele.
Es gibt einhundert deutsch-israelische Städtepartnerschaften. Tausende von Jugendlichen und Erwachsenen haben Israel bereist, manche von ihnen wurden christliche Zionisten.
Die Organisation "Schule ohne Rassismus" in Berlin vergab bisher gleichlautende Auszeichnungen an 200 Schulen und Gymnasien, die jeweils einen Erwachsenen als Paten haben. Ich bin einer von ihnen und sehr dankbar, dass einige meiner lieben Patenkinder aus dem Saarland zu dieser Feier eingeladen wurden. Seid hier herzlich gegrüßt, junge Freunde!
In Deutschland wirken in den beschriebenen Institutionen Abertausende von Menschen, die die Last der Vergangenheit auf sich genommen haben und sie an ihre Kinder, Enkel und Mitbürger weitergeben. Mit vielen von ihnen bin ich seit Jahren in der gemeinsamen Arbeit gegen das Vergessen tief verbunden. Sie sind meine Brüder und Schwestern im Geiste, Ihnen allen gelten heute meine allerherzlichsten Grüße und Wünsche.
Im biblischen Buch Exodus, 33,12 heißt es: "Weata amarta jedaticha bashem - Ich habe dich beim Namen gekannt." Schon immer war ich der Meinung, dass das Gedenken ohne Namensnennung unvollständig bleibt. Ein Freund hat nachgerechnet, dass die Personen-Register meiner Bücher etwa 5.000 Namen enthalten. Bin ich deshalb ein Namen-Fetischist?
Nachdem 1995 die zwei preisgekrönten Entwürfe für das Holocaust-Denkmal nicht verwirklicht wurden, erschien im September 1995 der Sammelband "Der Wettbewerb..." mit Texten von über 30 Autoren. In meinem Beitrag habe ich einen Vorschlag für die Gestaltung der Gedenkstätte am Mahnmal gemacht, den ich in der "Berliner Zeitung" vom 19.November 1997 wiederholte. Unter Punkt zwei schrieb ich:
"In einer großen Computer-Datenbank sollen die bisher bekannten Namen der Opfer mit weiteren biographischen Daten gespeichert, abgerufen und ausgedruckt werden können."
Als Urheber dieser Idee freut es mich, dass im "Ort der Information" des Holocaust-Denkmals eine Datenbank des Yad Vashem mit 3,5 Millionen Opfernamen installiert wird. Es ist mein Wunsch, dass dort auch die Datei der Judenretter eingerichtet wird.
Die zwölf Computer im "Ort der Information" wiegen für mich schwerer, als die 15 Tausend Tonnen Beton der rund 4.000 Stelen.
Übrigens bin ich der Meinung, dass auch das geplante Mahnmal für die Sinti und Roma bald gebaut werden soll. Die Differenzen über den Text der Inschrift sollten bald gelöst werden. Das Gleiche gilt für das Mahnmal für die verfolgten Homosexuellen.
Ich gedenke heute mit großem Schmerz meines Vaters David, meines Bruders Samuel, meiner frommen Großmutter Lea Wellner, vieler Cousins, Onkels und Tanten.
Mein Cousin Jean-Marie Kardinal Lustiger wurde vom Papst Johannes Paul II beauftragt, ihn bei den heutigen Feierlichkeiten in Auschwitz zu vertreten. In einem langen Telefonat vorgestern hat mir Jean-Marie u.a. erklärt, dass der Papst ihn erwählt hat, auch um die Schoa-Opfer und das jüdische Volk zu ehren. Er wird in wenigen Stunden in Auschwitz sprechen und dabei seiner Mutter, meiner Tante Giséle Lustiger, unserer gemeinsamen frommen Großmutter Mindel Lustiger und anderer Opfer unserer Familie gedenken, die in Auschwitz umgebracht wurden. Ihje schmam baruch. Ihr Andenken sei gesegnet!
Die Wege der Erinnerung sind schwierig, aber solange wir leben, sollten wir sie alle in unserem Gedächtnis behalten: die sechs Millionen unserer Brüder und Schwestern, davon eine Million in Auschwitz, die anderen Opfer der Nazis ohne Unterschied ihrer Herkunft, Religion oder des Grundes ihrer Verfolgung, die Retter und die Widerstandskämpfer aller Nationen, die Soldaten der 100. Division, die heute vor 60 Jahren Auschwitz befreiten und dabei fielen, unter ihnen, der sowjetische Moslem Leutnant Gilmudin Baschirow. Wir gedenken mit Dankbarkeit der Soldaten der alliierten Armeen, die bei unserer Befreiung fielen. Ihre Namen und ihr Gedenken seien gesegnet und unvergessen.
Es war mir eine Ehre, am 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz vor Ihnen zu sprechen und meine Erinnerungen, Gedanken und Gefühle mit Ihnen zu teilen. Ich danke für Ihre Anteilnahme und Aufmerksamkeit.