Die baltische Spezialität, die "singende Revolution", mit der die estnischen Andersdenkenden 1989/90 die politische Wende einleiteten, hatte zunächst die Wiederherstellung der Demokratie und der kurzlebigen ersten Republik (1918 - 1940) zum Ziel. Estnische Esten und russische Esten galten in der Aufbruchstimmung als ein Volk, das kleinste übrigens im Baltikum. Doch die 1992 angenommene Verfassung behandelte die Minderheiten keineswegs großzügig und gewährte die Staatsangehörigkeit nur denjenigen, die bereits vor der sowjetischen Okkupation Bewohner des Landes gewesen waren. Somit nahm ein langwieriger und schmerzhafter Prozess der Vergangenheitsbewältigung seinen Anfang, in dessen Verlauf die verheerenden Folgen des Ribbentrop-Molotow-Paktes auf die russische Minorität zurückfallen sollten. Dieser blieb die Teilnahme an dem Referendum zur EU-Mitgliedschaft per definitionem versperrt.
Sitzt man heute in dem kaum beheizten Restaurant "Narva" im russischen Bezirk von Tallinn, auf der anderen Seite der restaurierten, glanzvollen Altstadt, überkommt einen ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Die gleichen Einrichtungsgegenstände und Speisekarten finden sich aller Wahrscheinlichkeit nach von Murmansk bis Wladiwostock. Hier ist es keine Schande, sich auf Russisch zu unterhalten, im Gegenteil, sogar die Kellnerin begrüßt die Gäste auf Russisch. Im Zeitungsständer liegen die beiden russischsprachigen Zeitungen, die "Estnische Jugend" und "Der Tag in Estland". Die dritte und einzige seriöse Tageszeitung "Estonija" wurde wegen Geldmangel eingestellt.
Das "Narva" ist die einzige bezahlbare russische Gaststätte in der estnischen Hauptstadt, und dort kommt man am einfachsten an aktuelle Informationen über die "eigene Lage" heran. Eine junge Frau verteilt an den Tischen Informationsblätter und Anträge auf die estnische Staatsangehörigkeit. Marina ist nämlich vor kurzem "Estin" geworden und betreibt jetzt eine Art "Ich-AG". Sie beherrscht die Landessprache seit ihrer Kindheit, kennt die Geschichte ihrer Wahlheimat in- und auswendig, und ebenso die Paragrafen der estnischen Verfassung. Auf die Prüfung für das Erlangen eines estnischen Passes hat sie sich drei Jahre lang hart vorbereitet. Ihr absoluter Vorteil, und das sieht sie selbst so, war, dass ihre Eltern niemals in der Roten Armee gedient haben. Sie sind einfache Zugezogene aus dem sibirischen Perm (ehemals Molotow), denn in der Sowjetzeit war eine Eintragung in das Wohnregister von Tallinn viel unbürokratischer als beispielsweise in Leningrad oder gar in Moskau. Heute bietet die 40-jährige "billige" Kurse in Estnisch an und übt kontinuierlich Lobbyarbeit in der Selbstverwaltung aus, um eine Genehmigung zum Erteilen von Nachhilfeunterricht zur estnischen Verfassung zu erhalten. Die russischsprachige Bevölkerung hat vor diesem Teil der Prüfung die größten Hemmungen. Die Überprüfung ihrer Dokumente, das heißt ihres Status nach 1945, ist in ihren Augen ein subjektives Kriterium, das letztlich durch die aktuell herrschende Geschichtsauffassung und im weitesten Sinne durch das gesellschaftliche Klima beeinflusst wird. Diesbezüglich sind die Zeichen jedoch nicht gerade ermutigend. Der Tallinnsche Kulturführer nahm in seiner Ausgabe von 2002 eine neue Kulturinstitution auf: Das Okkupationsmuseum. In dem zweistöckigen gläsernen Gebäude befinden sich gleich hinter dem Eingang zwei Säulen, auf denen ein Hakenkreuz und ein Roter Stern abgebildet sind. In den Vitrinen stehlen sich Relikte aus der Nazi - und aus der Sowjetzeit gleichsam die Schau: SS-Ausweise estnischer Bürger konkurrieren mit Unterlagen von KGB-Schergen, historische Dokumente von 1940 mit schriftlich überlieferten Befehlen aus dem Jahr 1944. Die ausgestellten Eisentüren von sowjetischen Gefängniszellen, russischsprachige Lebensmittelcoupons und Filme über die Besuche Breschnews in Estland nähren unbewusst, aber konsequent das Hassgefühl gegenüber der Sowjetära. Die begleitenden audiovisuellen Kommentare kennen nur die englische und estnische Sprache. Der Mann, der die Eintrittskarten verkauft, hält alle ausländischen Besucher automatisch für Finnen und erzählt begeistert, dass die Initiatoren des Museums um zusätzliche Kellerräume kämpfen, da neben den diversen hier ruhenden Lenins und Molotows bislang kein Platz für jüngst demontierte Skulpturen russischer Soldaten ist. Letztere werden kontinuierlich aus den Parkanlagen und Plätzen Estlands entfernt. Die Geschichte ist typisch für Osteuropa: In der kleinen westestnischen Stadt Lihula wurde ein Denkmal zur Erinnerung an die "estnischen Freiheitskämpfer" eingeweiht, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite der deutschen Besatzungstruppen gekämpft hatten. Tiit Madisson, Präsident des Landkreises, ehemaliger Dissident und prominente Figur der Unabhängigkeitsbewegung der 80er-Jahre würdigte in seiner Eröffnungsrede die Heldentaten jener estnischer Männer, die an der Seite der Deutschen gegen die Bolschewiki gekämpft hätten. Das Denkmal wurde über Nacht von seinem Sockel entfernt, und seither sorgen "Gegner der Gegner" für das Verschwinden der Sowjetdenkmäler.
In der öffentlichen Meinungsbildung und Diskussion indes klaffen die bereits etablierten Frontlinien weit auseinander. Die hiesigen Argumente könnten ebenso in jedem beliebigen postkommunistischen Land formuliert werden. Die Esten beharren mehrheitlich auf dem Standpunkt, dass es in Ermangelung einer estnischen Armee keine Schande gewesen sei, in der Waffen-SS zu dienen, und die russischsprachigen Esten wiederholen unermüdlich, dass die Befreiung des Landes der Roten Armee zu verdanken sei. Die Mehrheit gegen eine Minderheit. Wie dominant diese Kluft im öffentlichen Diskurs ist, bestätigt das Ergebnis einer Umfrage, demzufolge der Denkmalkrieg in der Chronik der wichtigsten Ereignisse des Jahres 2004 den dritten Platz verbuchen konnte. Vor dem Konflikt um Lihula rangiert nur der Beitritt in die EU und NATO.
Auch die kleine jüdische Gemeinde Estlands beteiligt sich an diesem Diskurs. Cilja Laud, die Vorsitzende der 3.000 Mitglieder zählenden liberalen Gemeinde, plädiert durchaus für ein Denkmal zu Ehren der gefallenen estnischen Soldaten. Anstelle einer SS-Uniform würde sie jedoch einen Soldaten darstellen, der in seinen Armen zwei Kinder hält; das eine ging - so Frau Laud - in die sowjetische, das andere in die deutsche Armee. Sie, als gebürtige Estin mosaischen Glaubens, hielte es für wünschenswert, wenn die zwei Traumata endlich in gemeinsamer Trauer aufgelöst werden könnten. So könnte man dann auch der jüdischen Tragödie Raum geben. Nüchtern betrachtet, scheint dieses Ziel kaum realisierbar. Elf Prozent der hiesigen Russen werden voraussichtlich noch lange mit einem Fremdenpass leben und sich für ihren russischen Akzent im Estnischen schämen. In die benachbarten baltischen Staaten, nach Helsinki, nach Westeuropa oder eben nach Moskau zu reisen ist für sie gleichermaßen schwer. Ohne Visum ist nur Russland zu erreichen, Bahnverbindungen existieren kaum noch. Hingegen geht es auf dem Flughafen in Tallinn hektisch her. Die Esten stehen je nach Muttersprache in getrennten Schlangen für "EU"- und "Nicht-EU"-Bürger vor den Kontrollpunkten. Die Pässe trennen ihre Wege.
Ein längst erwartetes oder erhofftes Szenario wird, wenn alles nach Putins Plan läuft, am 9. Mai dieses Jahres, am 60. Jahrestag der Befreiung auf diesem Flugplatz stattfinden. Staatspräsident Arnold Rüütel wird an diesem Tag - oder eben nicht - von dort aus nach Moskau starten, um an den Feierlichkeiten auf dem Roten Platz teilzunehmen. Eine Zusage wäre im Prinzip längst fällig. Dieser Tag ist in den baltischen Ländern seit der Wende ein gewöhnlicher Arbeitstag. Auch die Esten binden sich an diese Tradition und meinen, dass auf die Befreiung nahtlos eine Okkupation und damit Terror und Massenverbannung von Esten folgte. Die russische Minderheit träumt davon, dass 60 Jahre nach Niederlegung der Waffen ein
"Nasdarowje" (deutsch "Zum Wohl") aus einem estnischen Mund in der russischen Hauptstadt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum estnischen Pass bedeuten würde. Erst dann kann das Restaurant "Narva" vermutlich zur Privatisierung freigegeben werden. Der estnisch-russische Dolmetscher dürfte mit der professionellen Übertragung der Getränke- und Speisekarte keine Schwierigkeiten haben. Nota bene, die Esten müssten heutzutage am besten wissen, was in den Töpfen gekocht wird. Vielleicht heißt das Gefühl der Zugehörigkeit auf russisch nicht umsonst "Ellbogengefühl".