Rudolf Uertz, Privatdozent an der Katholischen Universität Eichstätt und Referent in der Konrad-Adenauer-Stiftung, widerspricht den Vertretern der Kontinuitätsthese, die Altes aus den historischen Umständen und Neues als Resultat der Anwendung immer gültiger Prinzipien auf neue Umstände interpretieren. Er vertritt die These vom Paradigmenwechsel innerhalb der katholischen Staats- und Soziallehre. Ihm gelingt es, das enge neuscholastische Naturrechtsdenken zugunsten eines auf das Gewissen des Einzelnen als sittlicher Instanz gründenden Entscheidungskriteriums aufzubrechen.
Diesen Schritt hin zum christlichen Personalismus, sprich Freiheit der Person, hätte die katholische Staatslehre nach Ansicht des Autors schon Jahrhunderte früher vollziehen sollen. Erst dadurch sei Staatsrechtsdenken im liberalen Sinne möglich geworden. Ein wichtiger Wegbereiter des Personalismus war der Franzose Jacques Maritain. Seine Ideen fanden zuerst bei den Laien Gehör, bis die Kirche sie später nachvollzogen hatte.
Der Autor trifft eine wichtige Entscheidung, die bis heute zwischen der dominikanischen und der jesuitischen Denkschule heftig umstritten ist: er entscheidet sich für einen freiheitlichen Personalismus und für das Gewissen als oberster Instanz. Damit bezieht er eine klare Gegenposition zum organischen Naturrechtsdenken der Dominikaner. Erst durch die Überwindung des neuscholastischen Denkens habe das katholische Staatsdenken ein positives Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten entwickeln können.
Selbst ein so fortschrittlicher Denker wie der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning habe noch in den 50er-Jahren seine Schwierigkeiten gehabt, die berufsständische Ordnung mit dem liberalen Verfassungsstaat zu versöhnen. Auch habe sich von Nell Breuning mit keinem Wort gegen das Staatsdenken der Päpste gewandt. Gemäß dem Gemeinwohlprinzip als oberster sozialethischer Norm konnte sich die Kirche nur neutral gegenüber dem Staat verhalten. Folgerichtig bewertete man katholische Vereinsinteressen als höherwertig als den Schutz von Verfassung und Grundrechten.
Uertz hat in dieser profunden Arbeit eine "Perle" ausgegraben: Die Schrift von Robert Linhardt "Verfassungsreform und katholisches Gewissen", die fünf Tage vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 25. Januar 1933 in München erschienen war. Darin unterzieht der Autor die katholische Sozialdoktrin einer beißenden Kritik. Diese Schrift ist der erste und der einzige Beleg dafür, dass es katholischerseits bereits damals eine Kritik an der neuscholastischen Staatslehre der Kirche gab.
Linhardt kritisierte die unhistorischen Deutungen der katholischen Naturrechtsdogmatik. In verfassungsrechtlichen Frage gebe es keine Mitte zwischen Individualismus und Sozialismus. Er forderte spätestens seit 1933 vom "katholischen Gewissen" einen Rekurs auf die liberalen Grundrechte. Linhardt war Moraltheologe an der theologischen Hochschule in Freising und Ehrenkanonikus von St. Kajetan in München. Er wurde 1945 von Kardinal Faulhaber abberufen, obwohl er erst 50 Jahre alt war. Die Gründe für diese Entlassung sind bis heute ungeklärt. Linhardt starb am 16. Januar 1981 in München.
Bereits 1961 hatte der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde dem deutschen Katholizismus von 1933 bescheinigt, dass die Treue zur bestehenden geschichtlichen Verfassung keinen naturrechtlichen Ort hatte, will heißen: Vom neuscholastischen Naturrechtsdenken konnte man gemäß dem Gemeinwohlprinzip als oberster Norm nur die Neutralität gegenüber der Staatsform ableiten. Nach der legalen Machtergreifung Hitlers sah sich die Kirche aufgrund ihrer moraltheologischen Prinzipien denn auch schon bald veranlasst, den Anspruch der "rechtmäßigen Obrigkeit" auf Gehorsam seitens der Katholiken einzufordern.
Die in drei Kapitel gegliederte Arbeit lässt erkennen, welcher ideengeschichtliche Zeitraum durchschritten worden ist. Es ist gewichtige und schwere Kost, die für den Laien dennoch les- und verstehbar präsentiert wird. Dieses ,Opus magnum' arbeitet ein Kapitel katholischen Staatsdenkens auf, das überfällig war. In die Wissenschaftsgeschichte dürfte es als "Klassiker" eingehen. Für die politische Bildung ist dieses Werk besonders wichtig, da es Einblicke in Grenzfragen zwischen Religion und Politik bietet. Darüber hinaus zeigt es den Stellenwert eines liberalen Katholizismus im politischen Geschehen auf.
Rudolf Uertz
Vom Gottesrecht zum Menschenrecht.
Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789 - 1965).
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2005; 552 S., 59 ,- Euro.
Der Autor ist Historiker und Redakteur der dieser Zeitung
beigefügten Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" in
Bonn.