Im Einzelnen werden in jeweils eigenen Kapiteln auf der Grundlage vielfältiger Daten, Befunde, Tabellen und Schaubilder die Strukturen der Bevölkerung, der Haushalte und Familien, der Erwerbstätigkeit und der Bildung, der sozialen Ungleichheit, der sozialen Sicherung und der kulturellen Lebensweisen dargestellt. Den theoretischen Bezugsrahmen bildet ein Modell der Sozialstrukturentwicklung, dass auf den Modernisierungstheorien der 50er- und 60er-Jahre fußt.
Dessen erste Annahme lautet, dass sich alle Gesellschaften der Welt früher oder später, schneller oder langsamer modernisieren. Zweitens wird eine von der vormodernen "Agrargesellschaft" über die moderne "Industriegesellschaft" bis hin zur "Postindustriellen Gesellschaft" reichende Entwicklung mit je einer typischen Ausformung der Sozialstruktur unterstellt. Auf der Grundlage dieses Modells, welches in den einzelnen Kapiteln noch ergänzt wird durch speziellere Theorien zum Wandel einzelner Sozialstrukturen, lautet durchgängig die Frage: Wie weit ist die Modernisierung der einzelnen Gesellschaften in den jeweiligen Teilbereichen gediehen? Und weiter: Wo liegen die Unterschiede, wo fallen sie besonders auf?
Dem Autor ist es wichtig, dass die gewählte Zugriffsweise lediglich als "heuristischer Bezugsrahmen" dient, um "den Wald vor lauter Bäumen nicht aus den Augen zu verlieren" und nationale Unterschiede einordnen zu können. Eine umfassende "Richtigkeit" der Modernisierungstheorie wird nicht behauptet. Im Gegenteil: Die Studie zeigt, dass in vielen Ländern zentrale sozialstrukturelle Entwicklungen den gängigen Modellvorstellungen nicht entsprechen.
Beispielsweise greifen die Menschen, anders als häufig angenommen wird, im Zuge der Modernisierung oft auf traditionale Lebensweisen und Identitäten wie regionale Bräuche, Vereinigungen und Zugehörigkeiten zurück. Dementsprechend spielt die "Heimat" für viele Menschen eine eher wachsende Rolle. Wichtiger noch ist vielleicht die Erkenntnis, dass sich schicht- und klassenspezifische Lebensweisen auch in einer postindustriellen Gesellschaft nicht auf dem Rückzug befinden und dass die Verteilung von Einkommen und Vermögen in vielen modernen Gesellschaften wieder ungleicher geworden ist.
Allerdings lassen sich auch - ganz im Einklang mit dem Optimismus der Modernisierungstheorien - "erfreulichere" Entwicklungstrends registrieren: So ist in allen westeuropäischen und auch in den meisten übrigen Ländern der Welt, Ausnahmen bilden die russische Föderation und einige arme, von der AIDS-Epidemie betroffene Länder Afrikas, die Lebenserwartung durchgehend angestiegen. Weiter sind laut den Ergebnissen der Studie in allen mehr oder minder modernen Gesellschaften anhaltende Prozesse der Wohlstandsmehrung, des Beschäftigungswachstums und der Liberalisierung der Lebensformen und Lebensweisen zu beobachten.
Es zählt zu den Vorzügen der komparativen Methode, dass sie einige Besonderheiten der Sozialstruktur Deutschlands deutlich hervortreten lässt. Beispielsweise wird der im Vergleich mit anderen modernen Gesellschaften große Industrie- und kleine Dienstleistungssektor offenkundig - ein Sachverhalt, der zusammen mit den konservativen Einstellungen zur Familie bei weiten Teilen der Bevölkerung und den nur allzu häufig anzutreffenden Defiziten bei den Kinderbetreuungseinrichtungen dazu beiträgt, dass die Frauen hierzulande schwächer als in anderen westeuropäischen Gesellschaften in die Erwerbstätigkeit einbezogen werden. Zugleich sind in der Bundesrepublik die Anteile berufsorientierter Frauen, die keine oder erst sehr spät Kinder bekommen, vergleichsweise hoch. In puncto Kinderlosigkeit liegen die Deutschen in der Spitzengruppe der EU-Länder.
Aber nicht nur die Defizite im Bereich der Familie, sondern auch solche im Bildungssystem werden von Hradil offengelegt. So wurde hierzulande, gemessen an der Quote der Hochschulabsolventen im Verhältnis zu anderen Ländern, "zu wenig Bildung produziert". Außerdem gelingt es, wie vor allem die PISA-Studie nachgewiesen hat, hierzulande schlechter als in vielen anderen Gesellschaften, Kindern aus niedrigen Schichten den Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. Und ein letztes, ein besonders betrübliches Ergebnis: Obschon es keinen allgemeinen Trend der Zunahme von Armut in modernen Gesellschaften gibt, hat sie im wohlhabenden Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten wieder zugenommen.
Unbeschadet aller Vorzüge der Studie lassen sich einige Kritikpunkte anführen. Viele der im Text und den Schaubildern versteckten Einzelbefunde hätten unbedingt ausführlichere Interpretationen verdient. Bedauerlich ist es auch, dass die gerade unter einer vergleichenden Perspektive besonders ergiebigen Themen der Geschlechterungleichheit, der Religion und der ethnischen Minderheiten keine eigenständige Abhandlung erfahren; Ausführungen hierzu verteilen sich über das ganze Buch oder bleiben, wie im Falle der Religion, Mangelware.
Dies wiegt umso schwerer, da leider auf ein die Nutzung erleichterndes Sachregister verzichtet wurde. An die Stelle des eher unergiebigen Kapitels "Kultur und Lebensweise" und des allzu knappen Ausblicks im zehnten Kapitel hätte man sich nach der intensiven Auseinanderstzung bei Einzelaspekten doch noch eine bilanzierende Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse insgesamt gewünscht.
Diese (kleineren) Schwächen können den positiven Gesamteindruck allerdings kaum trüben. Insgesamt zeigt das mit zahllosen interessanten Informationen gespickte Werk eindrucksvoll, wie stark die Sozialstrukturanalyse generell und insbesondere auch hier in Deutschland von einer stärker internationalen Ausrichtung zu profitieren vermag. Da der Autor eine klare, vom oftmals sperrigen Jargon der Sozialwissenschaften befreite Sprache beherzigt, ist das Fach- und Lehrbuch durchaus auch einem breiteren Publikum zu empfehlen.
Stefan Hradil
Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004; 304 S., 24,90 Euro