In den Auseinandersetzungen um die Migrationsthematik ging in den letzten Jahren der Streit eher um die Frage, ob die Bundesrepublik ein Einwanderungsland sein will als um die Anerkennung der Tatsache, dass sie wie andere europäische Länder längst eine Einwanderungsgesellschaft ist. Erst allmählich, aber irreversibel, bricht sich die Einsicht Bahn, dass Migration nicht vor den Grenzen Halt macht, sondern dass unsere Gesellschaft - auch bei gegenwärtig leicht rückgängigen Einwanderungszahlen - gezwungen ist, auf die "Tatsache Einwanderungsgesellschaft" angemessen und verantwortungsvoll zu reagieren.
Unter anderem - so sehen es die beiden Soziologen an der Fachhochschule Freiburg - birgt diese Tatsache eine bildungspolitische und bildungspraktische Herausforderung in sich, der bislang nur unzureichend Rechnung getragen wurde. Dem wollen sie abhelfen. Ihnen kommt es darauf an, sowohl theoretische Analysen und Reflexionen als auch kritische Auseinandersetzungen mit Vorschlägen für die alltägliche Bildungspraxis zu verknüpfen und zugleich eigene Materialien und Vorschläge für eine angemessene Bildungspraxis zu unterbreiten. Diese laufen auf eine Antidiskriminierungsperspektive hinaus.
Der theoretisch ambitionierte und empirisch fundierte Band verwendet leider eine hochkomplexe Fachsprache, wie sie Forschungsberichten zwar gemeinhin eigen ist, aber die flüssige Lesbarkeit für ein breiteres Publikum sehr erschwert. Die Autoren haben ihre Studie in acht größere Kapitel gegliedert. Sie beginnen unter Bezug auf die einschlägigen Fachdiskussionen mit einer ausführlichen Erläuterung zentraler Begriffe wie Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit oder Rechtsextremismus. Das zweite Kapitel fasst die Ergebnisse von Länderrecherchen zusammen, bei denen am Beispiel der Bildungspolitik und -praxis Englands, Kanadas und Frankreichs nach praxisbezogenen Anregungen für die bundesdeutsche Situation gesucht wurde.
Im Zentrum des Buches stehen drei Themen. Zunächst werden Grundlagen einer Menschenrechtspädagogik skizziert, deren Aufgabe es sei, "eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung über die moralischen und normativen Grundlagen zu bieten, die einer Kritik von Ungleichheiten und Diskriminierungen und ihren Rechtfertigungen zu Grunde gelegt werden können". Zentraler Lerngegenstand einer solchen Pädagogik müssten die gesellschaftliche Formen von Diskriminierung, Entrechtung und Demütigung sein. Konkretisiert werden diese Überlegungen durch ausgewählte Materialien, Konzepte und Unterrichtsbeispiele, welche die Methodik und Didaktik der Menschrechtspädagogik fundieren sollen.
Dann werden Programmatiken und Konzepte der Diversity-Pädagogik diskutiert, um so zu einer Kritik rechtsextremer Ordnungsmodelle vorzustoßen. Der letzte größere Bereich dient den Grenzen und Möglichkeiten des historisch-politischen Lernens zu Nationalsozialismus und Holocaust sowie der Präsentation ausgewählter Unterrichtsmaterialien und Seminarkonzepte zu Rassismus und Rechtsextremismus.
Dabei wollen Hormel und Scherr in erster Linie zeigen, wie eine historisch orientierte Bildungspraxis, "die den Nationalsozialismus und Holocaust thematisiert, zur Entwicklung von Distanz und Kritikfähigkeit gegenüber fremdenfeindlichen, rechtsextremen und rassistischen Überzeugungen sowie zu Aneignung menschenrechtlicher Prinzipien beitragen kann".
Damit begeben sich die Autoren auf ein Feld, das in der sozialpädagogischen Forschung seit den 80er-Jahren durchaus kontrovers diskutiert wird und zwischen den Extremen einer "akzeptierenden Jugendarbeit" und einer Konfrontationspädagogik gegenüber rechtsextremen Jugendlichen oszilliert. Eine wirklich schlüssige Antwort wird der Leser letztlich auch hier nicht finden, wenngleich das Buch gerade in den eher praxisorientierten Passagen durchaus interessante Anregungspotentiale enthält.
Andererseits sind die Spuren eines elaborierten Forschungsberichtes nicht zu übersehen, was den potentiellen Leserkreis vermutlich auf das akademische Fachpublikum begrenzen wird. Aber sicher ist es ein Verdienst der Autoren, die bislang getrennt geführten Debatten über die Bildungsbenachteiligung von Migranten einerseits und die Erfordernisse einer antirassistischen und interkulturellen Pädagogik gedanklich zusammengeführt zu haben. Ob Pädagogik in der Praxis die ihr damit gestellten Aufgaben erfolgreich bearbeiten kann, steht auf einem anderen Blatt. Skepsis wäre hier eher ein guter Ratgeber, auch wenn dies nicht den Intentionen der Autoren entspricht.
Ulrike Hormel / Albert Scherr
Bildung für die Einwanderungsgesellschaft.
Perspektiven der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung,
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004; 330 S., 29, 90 Euro