Es geht den Herausgebern im wesentlichen darum, das europäische Sozialmodell aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen - Soziologie, Ökonomie, Recht, Politik und Geschichte - darzustellen und gleichzeitig in einem internationalen Vergleich Unterschiede, Gemeinsamkeiten und wechselseitige Beeinflussungen der einzelnen Sozialmodelle aufzuzeigen. Von besonderer Bedeutung ist die Transnationalisierung des europäischen Sozialmodells durch internationale, multi- und bilaterale Verträge und Abkommen, hier vor allem die Regelungskompetenzen der Europäischen Union.
Es ist für alle politisch Verantwortlichen außerordentlich wichtig, Europa nicht nur politisch und wirtschaftlich zusammenwachsen zu lassen, sondern sein soziale Fundament, das ein entscheidendes europäisches Merkmal gegenüber anderen Kontinenten darstellt, für die Zukunft zu festigen und den wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen.
Für die Diskussion sind mehrere Faktoren von Bedeutung: einmal der Wandel der Familie, zum anderen der demographische Wandel, also die drastische Veränderung der Alterstruktur aufgrund sinkender Geburtenraten und steigender Lebenserwartung. Hinzu kommen Risiken, die sich durch Veränderungen im Arbeitsleben ergeben: diskontinuierliche Erwerbsverläufe, rasches Veralten von Wissen durch neue Technologien, unsichere Einkommensverhältnisse. Diese Entwicklungen stellen nicht nur Geschlechter- und Generationenverhältnisse in Frage, sondern belasten auch das bisher bestehende und vor allem akzeptierte Solidarsystem.
Der erste Teil des Jahrbuches widmet sich ausführlich der jüngeren Geschichte des europäischen Sozialmodells und stellt die Entwicklung etwa seit dem 16. Jahrhundert dar, in der soziale Sicherung weitgehend als kommunale Armenpolitik vorgenommen wurde, gefolgt von der staatlichen Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts bis hin zur modernen Wohlfahrtspolitik der 50er- bis zu den 70er-Jahre, häufig als Glanzzeit des Wohlfahrtsstaates bezeichnet. In diesen Jahren war ein wirtschaftlicher Boom zu verzeichnen; zugleich waren sie geprägt sowohl von der Privilegierung verschiedener Gruppen - Beamte, Selbständige, aber auch Angestellte - und der Focussierung des Wohlfahrtsstaates auf die Lohnarbeit als auch von der Orientierung auf ein Familienmodell, das sich in der Zwischenzeit erheblich gewandelt hat.
Bis in die frühen 70er-Jahre waren bestimmend die soziale Sicherung der Migranten und die zunehmende Gleichstellung und Gleichbehandlung von Mann und Frau; daneben ging es für die europäische Gemeinschaft um eine sozialpolitische Programmatik. Maastricht kann dabei angesehen werden als Auslöser einer intensivierten politischen Integration Europas, während der Vertrag von Amsterdam zur weiteren Konsolidierung der Europäischen Sozialgemeinschaft beigetragen hat. Geprägt war diese Phase vor allem durch Einkommens- und Statussicherung im Alter, bei Krankheit und bei Arbeitslosigkeit.
Der zweite Teil "Das europäische Sozialmodell in vergleichender Perspektive" zeigt, dass diese Kontinuitätslinie wohl für die west- und südeuropäischen Länder gilt, jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt für die Staaten Osteuropas. Die Autoren erläutern die Entwicklung in Ostmitteleuropa sowie das japanische Modell in seiner Dimension zwischen Eigenverantwortung und staatlicher sozialer Sicherheit. In der Betrachtung der Situation in Lateinamerika und mit Blick auf die australische Perspektive wird hervorgehoben, dass eine zu starke Liberalisierung sich eher negativ auf die Betroffenen auswirkt; aufgezeigt werden neue Modelle einer solidarischen Risikoverteilung zwischen Individuen, Betrieben, Sozialpartnern und dem Staat. Im Vergleich zwischen Europa und den USA wird besonders die extrem hohe Ungleichheit von Löhnen, Einkommen und Lebensstandards in den USA gegenüber der übrigen westlichen Welt deutlich.
Den dritten Teil des Jahrbuchs bildet das Thema "Transnationale Perspektiven des europäischen Sozialmodells", das sich den Bereichen der Gesundheits-, Renten, Alten- und Arbeitsmarktspolitik widmet. Besondere Beachtung findet dabei die Darstellung der "Offenen Methode der Koordinierung", die ein Instrument darstellt, "das die freiwillige Kooperation und den Austausch bewährter Verfahren zwischen den EU-Mitgliedstaaten verbessern und ihnen eine Hilfestellung bei der Weiterentwicklung ihrer nationalstaatlichen Politik geben soll". Dies soll geschehen über die Entwicklungen von Leitlinien, quantitativen und qualitativen Indikatoren, Überwachung und Bewertung der Maßnahmen und Fortschritte. Schlüsselakteure sollen dabei der Europäische Rat, die Kommission und die EU-Ministerräte sein.
Der letzte Teil des Jahrbuchs widmet sich institutionellen und rechtlichen Aspekten. Es geht um Kulturen, um Gewohnheiten, Traditionen und Wertestrukturen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Basisinstitutionen wie Familie, Geschlechter- und Generationenverhältnissen , Arbeits- und Sozialverhältnissen. Die Autoren zeigen, dass ein Zusammenschluss der EU-Länder ökonomisch und politisch noch nicht gleichzeitig auch die Ausrichtung auf ein einheitliches europäisches Sozialmodell im Hinblick auf die oben genannten Punkte bedeutet.
Das Jahrbuch versammelt namhafte Wissenschaftler zu einem Thema von zentraler Bedeutung. Alle Autoren verdeutlichen, dass die Vielfalt europäischer Sozialmodelle als reicher Fundus genutzt werden kann, damit alle EU-Länder ihren eigenen Traditionen gemäße Anpassungsen an die gemeinsamen Herausforderungen entwickeln können. Einer europäischen Verfassung mit exakt festgelegten Kompetenzen und einer gleichzeitigen Akzeptanz durch seine Bewohner kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu, wobei die ökonomische Entwicklung und beschäftigungspolitische Effekte nicht isoliert betrachtet werden können. Für Politiker und sozialpolitisch Interessierte kann das Jahrbuch 2004 als notwendige Lektüre bezeichnet werden.
Hartmut Kaelble / Günther Schmid (Hrsg.)
Das europäische Sozialmodell.
Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat.
WZB Jahrbuch 2004.
Edition Sigma, Berlin 2004; 455 S., 27,90 Euro