Ein fast komplett neues Vertragsrecht, eine wesentlich geänderte Zivilprozessordnung und unzählige kleine Änderungen im Strafrecht hat das Bundesjustizministerium in Zusammenarbeit mit den Bundesländern in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht. Doch kaum, dass die neuen Gesetze in der Praxis Anwendung finden, planen die Landesjustizminister schon das nächste umfassende Reformprojekt: Die "Große Justizreform" soll die bundesdeutsche Gerichtslandschaft wesentlich verändern.
So wollen die Landesjustizminister nach einem Beschluss vom November des vergangenen Jahres unter anderem die Prozessordnungen für alle Gerichtszweige vereinheitlichen. Einige Länder, wie zum Beispiel Niedersachsen, planen zudem schon, verschiedene Gerichtszweige zusammenzulegen. Nach einem Sachverständigenbericht des niedersächsischen Justizministeriums sollen die Arbeitsgerichte mit der Ziviljustiz sowie die Sozial- und Finanzgerichte mit der Verwaltungsjustiz verschmolzen werden. Dies würde es wesentlich erleichtern, Richter schneller zu versetzen, so die Begründung der Sachverständigen.
Ein flexiblerer Personaleinsatz wird auch von den anderen Bundesländern angestrebt. Zudem wollen die Justizminister mit der geplanten Reform die Rechtsschutzmöglichkeiten einschränken: Grundsätzlich soll es nur noch eine Rechtsmittelinstanz geben, und bestimmte Entscheidungen, wie zum Beispiel Geldbußen bis zu 500 Euro bei Verkehrsordnungswidrigkeiten und/oder ein Fahrverbot von bis zu einem Monat sollen überhaupt nicht mehr anfechtbar sein. Um die Justiz zu entlasten, ist auch geplant, richterliche Aufgaben verstärkt auf Notare oder die Industrie- und Handelskammern zu übertragen. Die Gerichtsvollzieher sollen unter Umständen komplett abgeschafft werden. Statt staatlichen Vollstreckungsbeamten würden dann künftig mit hoheitlicher Macht beliehene Privatunternehmen offene Forderungen eintreiben. Zudem wollen die Länder die außergerichtliche Streitbeilegung stärker fördern, notfalls mit finanziellem Druck: Die Tarife der Rechtsschutzversicherer sollten so gestaltet werden, dass ein Prozess ohne ein vorheriges außergerichtliches Verfahren teurer wird, beschlossen die Länderjustizminister auf ihrer Konferenz im November des vergangenen Jahres.
Das Ziel dieser ganzen Reformbemühungen ist vor allem, Kosten zu sparen, auch wenn die Landesjustizminister es in ihrem Beschluss ein wenig vornehmer ausdrücken: Auch die Justiz hat "angesichts der allgemeinen Finanzsituation ihren Beitrag zur Konsolidierung im öffentlichen Bereich zu leisten". Deshalb sollten die bestehenden Sparzwänge zum Anlass für nachhaltige Strukturverbesserungen bei den Gerichten genommen werden.
Dabei steht Deutschland im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht da: Nach einer aktuellen Untersuchung des Europarates gibt die Bundesrepublik gerade einmal rund 53 Euro im Jahr pro Einwohner für das Justizsystem aus. Deutsche Gerichte sind damit wesentlich preiswerter als zum Beispiel die Justiz in Belgien (64 Euro), Österreich (70 Euro) oder gar der Schweiz (103 Euro). Zwar verursacht die Justiz in einigen großen EU-Staaten, wie unter anderen Frankreich (28 Euro) oder Spanien (24 Euro) teilweise noch niedrigere Kosten, insgesamt liegt die Bundesrepublik aber im Mittelfeld, insbesondere wenn man die absoluten Zahlen in Bezug zum Haushalt setzt. So gibt Deutschland weniger als ein Prozent seines Haushaltes für die Gerichte aus. In Ländern wie zum Beispiel Norwegen oder auch Polen sind die prozentualen Kosten mit fast zwei Prozent beinahe doppelt so hoch.
Auch bei der Zahl der Richter im Verhältnis zu den Einwohnern liegt die Bundesrepublik nach der Anfang diesen Jahres veröffentlichten Studie des Europarates keineswegs an der Spitze, sondern im oberen Mittelfeld: Auf 100.000 Einwohner kommen in Deutschland cirka 25 hauptberufliche Richter, etwa genauso viel wie in Ungarn (27) oder der Tschechischen Republik (26). Ähnlich sieht es bei der Zahl der Staatsanwälte aus: Hier kommen in Deutschland 7,5 Strafverfolger auf 100.000 Einwohner, das ist zwar wesentlich mehr als in Frankreich (2,5) oder Spanien (4), aber auch deutlich weniger als in Portugal (11,5) oder Polen (14,5).
Was die in der Öffentlichkeit häufig beklagte Dauer von Gerichtsverfahren angeht, kann die deutsche Justiz im europäischen Vergleich ebenfalls bestehen. Zwar liegt die Bundesrepublik bei Scheidungsprozessen an der Spitze, ein durchschnittlicher Raubprozess dauert aber in etwa genauso lange wie in Frankreich oder Belgien.
Auch die Zahlen des deutschen Statistischen Bundesamtes belegen keineswegs eine drastische Zunahme der Verfahrensdauern. So wurden im Jahr 2003 mehr als 60 Prozent aller Strafverfahren vor den Amtsgerichten innerhalb von drei Monaten abgeschlossen. Damit hat die Strafjustiz ihre Geschwindigkeit gegenüber dem Jahr 2000 (58 Prozent innerhalb von drei Monaten) sogar erhöht, und dies bei einer steigenden Zahl von erledigten Verfahren (846.000 im Jahr 2000 gegenüber 878.770 im Jahr 2003). Bei den Zivilverfahren vor den Amtsgerichten ist die durchschnittliche Bearbeitungsdauer zwar von 4,3 Monate im Jahr 2000 auf 4,4 Monate im Jahr 2003 geringfügig gestiegen, aber auch hier ist die Zahl der erledigten Verfahren von rund 1.148.000 im Jahr 2000 auf rund 1.149.000 im Jahr 2003 angewachsen. Auf diese Zahlen verweisen dann auch gerne die unterschiedlichen Gegner der "Großen Justizreform". So steht die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) den Plänen ihrer Länderkollegen "wohlwollend skeptisch" gegenüber, enthält sich aber jeder direkten Kritik.
Die unterschiedlichen Interessenverbände befürchten vor allem, dass die Reform ausschließlich Sparzwecken dient und im Ergebnis die Qualität der Justiz leiden wird. So betonen Bundesrechtsanwaltskammer und der Rechtsanwaltsverein unisono, dass sie Veränderungen aus rein fiskalischen Interessen bekämpfen werden. Auch der Deutsche Richterbund (DRB) sieht zwar die Notwendigkeit von Reformen, steht den derzeitigen Plänen aber eher ablehnend gegenüber: "Allein einem Spareffekt geschuldete, rechtsstaatliche Standards herabsetzende Maßnahmen verdienen weder das Prädikat Reform noch unsere Unterstützung", so die DRB-Bundesgeschäftsführerin Uta Fölster. Für organisatorische Veränderungen, die die Effektivität und die Qualität der richterlichen Arbeit steigern, sei man aber offen. Dies gelte zum Beispiel für die Verschmelzung von Gerichtszweigen. So findet sich in einem eigens vom DRB eingerichteten Internetforum zur Justizreform eine deutliche Mehrheit von Stimmen, die Sozial- und Verwaltungsgerichte zusammenlegen möchten. Die Befürworter einer solchen Verschmelzung verweisen darauf, dass die zurzeit bestehende Zuständigkeitsaufteilung zahlreiche Ungereimtheiten aufweise. So sei bei Arbeitsunfällen trotz gleich gelagerter Rechtsfragen die Zuständigkeit davon abhängig, ob ein Angestellter oder ein Beamter betroffen ist. Zudem seien zum Beispiel bei Streitigkeiten aus dem Bundesversorgungsgesetz manchmal die Verwaltungsgerichte (Fürsorgefragen) und manchmal die Sozialgerichte (Versorgungsfragen) zuständig. Dies alles beweise, dass es keinen Grund für eine getrennte öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit gebe.
Trotz dieser Mehrheitsmeinung im Internet-Forum will sich die DRB-Bundesgeschäftsführerin einer Forderung nach Zusammenlegung von Gerichtszweigen nicht offiziell anschließen. Sie sehe hier zwar Einsparpotentiale im Verwaltungsbereich der Gerichte, so Fölster, zunächst wolle der DRB aber abwarten, worauf sich die Justizminister bei ihrer Konferenz im Juni verständigen. "Eine einheitliche Position ist zurzeit für mich noch nicht erkennbar", sagt Fölster.
So sind einige Justizminister bereits wieder öffentlich vom gemeinsamen Beschluss aus dem vergangenen November abgerückt. Der Sprecher des schleswig-holsteinischen Justizministeriums, Thomas Voß, lehnt zum Beispiel einen Abbau von Rechtsmitteln strikt ab: "Dies produziert nur Mehraufwand in der ersten Instanz und führt zu keinem schlankeren Verfahren." Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichte zu einer öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit zu verschmelzen, befürwortet Voß hingegen: "Wir wollen einen flexibleren Richtereinsatz und eine effektivere Organisation der Justiz."
Der (noch-)nordrhein-westfälische Justizminister Wolfgang Gerhards (SPD) befürwortet hingegen einen Abbau von Rechtsmitteln zum Beispiel bei Bußgeldern von bis zu 500 Euro und/oder einem einmonatigen Fahrverbot. Eine Schließung von Gerichten lehnt Gerhards aber ab. Welche Vorstellungen das Kabinett Rüttgers hat, stand bei Redaktionsschluss nicht fest. Auch die Justizministerien in Brandenburg und Baden-Württemberg wollen keine Gerichtsstandorte aufgeben. Der Hamburger Justizsenator Roger Kusch (CDU) sieht für den Stadtstaat ebenfalls keine Notwendigkeit, Gerichtszweige zu verschmelzen: "Die Hamburger Richterschaft ist auch so flexibel genug." Aufgrund von höheren Eingängen bei den Sozialgerichten seien gerade sechs Verwaltungsrichter freiwillig dorthin gewechselt.
So bleibt als gemeinsames Ziel aller Landesjustizminister die Kosten zu senken und dadurch die Haushalte zu entlasten. Um sich verbindlich auf dafür geeignete Maßnahmen zu einigen, wird es vor der Justizministerkonferenz im Juni jedoch noch einiger Vorbereitungstreffen bedürfen.
Dass es Einsparpotentiale gibt, belegt aber auch die Studie des Europarates: So sind in etlichen der untersuchten Länder die Pro-Kopf-Kosten der Justiz deutlich unterhalb der von den deutschen Gerichten beanspruchten 53 Euro im Jahr: Aserbaidschan kommt mit nur 64 Cent aus, dicht gefolgt von Moldawien und Georgien mit jeweils rund 80 Cent.