Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie ernst es die FDP mit ihrer Kritik am Tarifvertragsrecht und der Mitbestimmung meint, dann hat ihn der Parteivorsitzende Guido Westerwelle just am 1. Mai geliefert. "Wir werden nach dem Wahlsieg 2006 die Gewerkschaftsfunktionäre entmachten", gab der FDP-Chef freimütig im Magazin "Focus" zu Protokoll. Selbst Massenproteste müsse man "im Interesse der Gesundung Deutschlands in Kauf nehmen". Die Gewerkschaftsfunktionäre seien "die wahre Plage in Deutschland" und "längst die Verräter der Arbeitnehmerinteressen, nicht deren Vertreter", befand der Parteichef. Ihre Politik koste "mehr Jobs, als die Deutsche Bank je abbauen könnte".
Ebenso klar wie das Feindbild sind auch die Vorstellungen des FDP-Vorsitzenden: "Wir werden das starre Tarifvertragssystem aufbrechen. Betriebliche Bündnisse sind dann nicht mehr die Ausnahme von Gewerkschaftsgnaden, sondern die Regel, wenn es drei Viertel der Belegschaft möchten. Außerdem wollen wir die paritätische Mitbestimmung durch eine Drittelbeteiligung ersetzen, und die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmerseite müssen aus dem Betrieb kommen, nicht aus fernen Gewerkschaftszentralen." Wer die Anträge der Freien Demokraten kennt, den überrascht dieses Programm nicht, allenfalls die pointierte Härte, mit der es vorgebracht wird. Doch Wes-terwelle kann sich klare Worte leisten: Zum einen nehmen die Urheber der FDP-Position - Parteivize Rainer Brüderle zu Tarifpolitik und Mitbestimmung, der neue Generalsekretär Dirk Niebel zur Arbeitsmarktpolitik - beide selbst kein Blatt vor den Mund. Zum anderen ist sich die Fraktion bei diesen Themen seit langem einig. An größere inhaltliche Differenzen kann sich Niebel jedenfalls nicht erinnern. "Seit ich im Bundestag bin, hat sich diese Thematik nicht verändert - weil ja auch das Problem das gleiche ist: die Verbändemacht." Von diesem antikorporatistischen Geist durchdrungen sind die bisherigen Anträge der Liberalen im Bundestag. Zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit verlangen sie drastische Änderungen des Tarifvertragsgesetzes, des Betriebsverfassungsgesetzes und des Streikrechts. Dazu zählt nicht nur die schon genannte gesetzliche Öffnung der Tarifverträge für betriebliche Vereinbarungen über Lohnverzicht oder unbezahlte Mehrarbeit, die freiwillig mit Zustimmung des Betriebsrats oder von 75 Prozent der abstimmenden Unternehmensmitarbeiter geschlossen werden. Zudem will die FDP die Allgemeinverbindlicherklärung abschaffen, die Bindewirkung eines Entgelttarifvertrags auf höchstens ein halbes und eines Manteltarifvertrags auf maximal ein Jahr nach Austritt eines Unternehmens aus dem Arbeitgeberverband befristen sowie Warnstreiks erst dann erlauben, wenn ihnen ein obligatorisches Schlichtungsverfahren vorausgegangen ist.
Die Unternehmensmitbestimmung soll nach dem Willen der Freien Demokraten durch die genannte Rückkehr zur Drittelparität auch in Konzernen mit mehr als 2.000 Beschäftigten reformiert werden. Die Aufsichtsräte sollen höchstens zwölf Mitglieder umfassen, die Zahl der Mandate pro Person auf fünf begrenzt werden. Ehemalige Vorstandsvorsitzende sollen erst nach einer Wartezeit von drei Jahren den Vorsitz im Aufsichtsrat übernehmen dürfen. Werden Aufsichtsratsmitglieder von der Hauptversammlung nicht entlastet, soll dies zu Sanktionen führen. Um die Kontroll- und Überwachungsfunktion des Gremiums zu stärken, kann bei Bedarf ein Sekretariat eingerichtet und ein hauptberuflicher Aufsichtsratsassistent beschäftigt werden. In ihrer Radikalität gehen die Vorschläge der FDP zum Teil noch über die Forderungen hinaus, die der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in ihrer gemeinsamen Mitbestimmungskommission erhoben haben. Von Obergrenzen für die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder und der Mandate oder von einer "Schamfrist" für den Wechsel in den Aufsichtsrat etwa ist dort nicht die Rede. Im Tarifrecht weisen die Liberalen eine sehr viel größere Übereinstimmung mit dem BDI auf, der für eine gesetzliche Tariföffnung plädiert und die Verbände ihrer Vetomöglichkeiten berauben will, als mit der für Tarifpolitik zuständigen BDA, die eine "kontrollierte Dezentralisierung" befürwortet.
Mit Blick auf einen möglichen Wahlsieg von CDU/CSU und FDP und die Nähe der Arbeitgeberverbände zur Union machen sich die Freien Demokraten über die Realisierbarkeit ihrer Forderungen keine Illusionen. Radikale Vorschläge wie die Abschaffung des Tarifvorbehalts in Paragraf 77 Absatz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes würden sich in einer schwarz-gelben Koalition wohl kaum durchsetzen lassen.
Nico Fickinger ist Redakteur bei der "Frankfurter Allgemeinen
Zeitung".