Das Parlament: Gibt es noch Verantwortung für Vollbeschäftigung bei Unternehmern?
Hans-Olaf Henkel: Selbstverständlich. Ich kenne nicht einen Unternehmer in Deutschland, der nicht lieber in Deutschland Fabriken eröffnen würde, Spatenstiche feiern würde, Einweihungen, als Menschen zu entlassen.
Das Parlament: Ist es nicht so, dass Arbeitslosigkeit auch ein Verhandlungsvorteil in der Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften ist?
Hans-Olaf Henkel: Das mag so sein, weil die Arbeitslosigkeit ja ein Symptom für eine Fehlentwicklung ist, und wenn diese sichtbar für alle auf dem Tisch liegt, hat man wahrscheinlich mehr Verbündete, um etwas dagegen zu tun. Aber in Ihrer Frage steckt die in Deutschland übliche Unterstellung, dass die Wirtschaft gern Arbeitslose produzieren würde, um eine bessere Stellung gegenüber den Gewerkschaften zu haben. Das ist ein ziemlicher Unsinn, denn zur wachsenden Arbeitslosigkeit zählt eben auch das Phänomen der wachsenden Anzahl von Pleiten. Wir hatten im letzten Jahr 40.000 mittlere und kleine Unternehmen, die den Bach heruntergegangen sind; daran hat niemand Freude.
Das Parlament: Die IG Metall sieht sich als Anwalt der Arbeitnehmer. Das bedeutet jedoch nicht per se, dass sie gleichzeitig auch Anwalt der Arbeitslosen ist. Kann es heute noch ein Anspruch der Gewerkschaften sein, sich auch um Arbeitslose zu kümmern? Wie kann das gemacht werden, wie wird das gemacht?
Berthold Huber: Selbstverständlich ist das ein Anspruch der Gewerkschaften. Die IG Metall ist mit rund 250.000 arbeitslosen Mitgliedern womöglich der größte Arbeitslosenverband. Wir haben mehr arbeitslose Mitglieder als jeder andere Verband in Deutschland. Wir versuchen, die Leute zu unterstützen, fordern Bildung, Ausbildung, Qualifizierung... Natürlich ist unsere Möglichkeit, selbst Arbeitsplätze für die Leute zu schaffen, sehr beschränkt. Wir versuchen darum auch, die Interessen von Arbeitslosen gegenüber der Politik zu vertreten. Wenn ich noch anfügen darf: Ein Vorwurf von Herrn Henkel ist, dass wir in Deutschland Gleichmacherei hätten. Das sei das Elend. Diese These stimmt selbstverständlich nicht. Auch für den Bereich, den ich vertrete, haben wir selbst bei den Tariflöhnen 10 bis 20 Prozent Unterschied in einer Branche, zwischen der Küste und Baden-Württemberg zum Beispiel. Zudem möchte ich Herrn Henkel fragen: Was ist denn Ihr Modell? Sie wollen, dass jeder Betrieb, jede Belegschaft für sich selber entscheidet. Das hätte fatale Auswirkungen: Wenn die Konkurrenzbedingungen zwischen den Betrieben einer Branche extrem unterschiedlich sind, findet Unterbietungskonkurrenz statt. Sie setzen eine Abwärtsspirale in Gang. Wenn ein Unternehmen Löhne senkt oder Arbeitszeiten verlängert, ziehen die anderen logischerweise nach. Damit ist niemandem geholfen, es geht nur allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schlechter.
Das Parlament: Dem Arbeitgeberverband wird häufig der Vorwurf gemacht, Jobkiller zu sein, und er wird dafür gescholten, dass er zu große Nachgiebigkeit gegenüber den Gewerkschaften an den Tag legt.
Hans-Olaf Henkel: Das eine können Sie von dem anderen nicht trennen. Schuld hat das Tarifkartell, das es in dieser Form nur noch in Deutschland und Österreich gibt. Überall sonst in der Welt ist es inzwischen zugunsten neuer Arbeitsplätze abgeschafft worden. Überall in der Welt ist man der Meinung, dass die Entscheidung über Arbeitszeiten, über Löhne und Lohnzuwächse so nah vor Ort wie möglich angesiedelt werden sollte - mit dem Erfolg, dass überall dort, wo das geschah, auch die Arbeitslosigkeit bekämpft wurde. Nur bei uns ist man noch der Meinung, dass überall das Gleiche gezahlt werden muss. Egal, ob Sie in einer Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit leben wie Gelsenkirchen oder in München, wo die Lebenshaltungskosten viel höher sind. Diese Gleichmacherei führt dazu, dass in Deutschland ohne Not viele Existenzen und Arbeitsplätze vernichtet werden. Und daran beteiligen sich auch die Arbeitgeber.
Das Parlament: Wir haben den griffigen Satz von Herrn Henkel, der auch von der Öffentlichkeit rezitiert wird, es gebe ein Tarifkartell, das Verträge zu Lasten Dritter schließt. Ist an der Formel etwas dran?
Berthold Huber: Nein. Wir schließen Tarifverträge für die Leute, die bei uns Mitglied sind, und im weitesten Sinne für alle Beschäftigten der Bereiche Metall, Elektro, Stahl, Textil sowie Holz- und Kunststoff. Das ist doch kein Job zu Lasten Dritter. Aber an der Stelle habe ich es aufgegeben, Herrn Henkel überzeugen zu wollen Die Formulierung von der angeblichen Belastung Dritter stammt von der "Monopol-Kommission". Sie hat unterstellt, dass die Arbeitslosen wegen angeblich zu hoher Löhne keinen Job fänden. Und die Steuerzahler müssten die sozialen Folgen der hohen Arbeitslosigkeit mit tragen. Diese unsinnige Polemik wird selbst in weiten Teilen des Arbeitgeber-Lagers zurückgewiesen. Wer sie trotzdem verbreitet, hat von Tarifpolitik entweder keine Ahnung oder führt die Menschen bewusst hinters Licht. Beschäftigungssicherung steht bei uns seit Anfang der 90er Jahre in der Tarifpolitik ganz oben. Dabei sind ganz unterschiedliche Formen möglich. Etwa Arbeitszeitabsenkung ohne Lohnausgleich oder befristete Absenkung von Entgelten in Krisenfällen. Wir haben in den letzten zehn Jahren hunderttausende Arbeitsplätze gesichert, nicht vernichtet. Allein unsere aktuellen Tarif-Vereinbarungen bei Daimler Chrysler und VW sichern zusammen über 250.000 Arbeitsplätze bis 2012 bzw. 2011. Das ist eines der größten Arbeitsplatz-Sicherungspakete in der deutschen Nachkriegsgeschichte!
Das Parlament: Sind denn nicht, wenn einzelne Belegschaften mit Konzernführungen Tarifverträge aushandeln, Belegschaften und Konzerne noch viel eher versucht, ein Kartell zu Ungunsten der Arbeitslosen zu bilden, als Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände?
Hans-Olaf Henkel: Im Gegenteil, sie wissen besser, was sich der eigene Betrieb leisten kann. Ich habe nichts gegen Flächenverträge und ich habe auch nichts dagegen, dass es Arbeitgeberverbände gibt. Aber dass man praktisch gezwungen wird, diesem Kartell beizutreten, ist der springende Punkt. Ich finde es schädlich, dass das deutsche Gesetz einem Unternehmer verbietet, sich auch dann mit seinem eigenen Betriebsrat über Löhne und Arbeitszeiten zu einigen, wenn sich zum Beispiel 75 Prozent der Beschäftigten in einer geheimen Abstimmung dafür entscheiden. Wenn Sie heute einen kollektiven und unternehmensspezifischen Abschluss in Ihrem Unternehmen haben wollen, müssen Sie eine Gewerkschaft ins Unternehmen holen, um dann einen Haustarif zu machen - und das möglicherweise auch, obwohl Sie nicht ein einziges Gewerkschaftsmitglied haben. Ich bin damals als Chef bei IBM mit 29.000 Mitgliedern aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten und habe, was gesetzlich sagen wir mal am Rande der Legalität war, mit dem Betriebsrat verhandelt und mir dann in der DAG einen offiziellen Gesprächspartner zur Unterschrift suchen müssen. Der Anlass waren damals für mich gar nicht so sehr die Löhne, sondern die Einführung der 35-Stunden-Woche. Ich hatte die Verantwortung für 29.000 Leute - davon arbeiteten etwa 6.000 im klassischen Metallbereich, der Rest aber im Software- und Servicebereich. Ich hätte bei der Einführung der 35-Stunden-Woche ein unlösbares Wettbewerbsproblem bekommen, denn meine deutschen Konkurrenten konnten alle weiterhin 39 Stunden arbeiten, nur weil sie keine Fabriken hatten. Diese schädlichen Folgen dieser unsinnigen Gleichmacherei müssen doch jedem einleuchten!
Berthold Huber: Die 35-Stunden-Woche ist zu Ihrem offensichtlichen Trauma geworden. Sie hat auf jeden Fall in den letzten 20 Jahren Arbeitsplätze gesichert. Natürlich ist das auch zu Lasten von Unternehmensgewinnen gegangen. Aber das ist kein Grund, weshalb wir uns dafür entschuldigen müssen.
Hans-Olaf Henkel: Und was passiert jetzt? Ihre Gewerkschaft wird aufgrund der Globalisierung gezwungen, auch die öffentliche Arbeitszeit wieder zu erhöhen. Dieses Jahrzehnt ist ein wirklich verlorenes Jahrzehnt gewesen, was die Arbeitszeit betrifft. Die Arbeitskosten werden überall in der Welt als Kosten pro Stunde berechnet, und man hat drei Möglichkeiten, die Arbeitskosten zu beeinflussen: Man kann die Anzahl der Stunden reduzieren, Sie können die Lohnnebenkosten erhöhen, dann erhöhen Sie die Arbeitskosten; und Sie können die Löhne erhöhen. Die IG Metall hat mit dem Arbeitgeberverband alle drei Dinge gleichzeitig gemacht. Unter den Langzeitfolgen dieser über 30 Jahre stattgefundenen Entwick-lung leiden wir heute. Da nützt auch die relative Lohnzurückhaltung der letzten zwei, drei Jahre, die ja stattgefunden hat, noch herzlich wenig. Wir sind immer noch meilenweit davon entfernt, wieder Arbeitsplätze schaffen zu können.
Berthold Huber: Die Entwicklung der Produktivität führt bei gleich bleibender Arbeitszeit - wenn ich jetzt einmal genauso puristisch argumentiere, wie Sie es tun - zur Reduzierung von Arbeitsplätzen. Also haben wir als Reaktion darauf immer ein flexibles System gehabt, mit dem wir Arbeitszeit schrittweise verkürzen. Die 35-Stunden-Woche ist doch nicht in den 80er Jahren schlagartig gekommen, sondern wurde stufenweise eingeführt. Außerdem schlagen wir seit 1995 vor, Tarif-Regelungen über Arbeitszeitkonten zu vereinbaren, um weitere Flexibilität zu schaffen. Erst jetzt, zehn Jahre später, haben wir in Baden-Württemberg erstmalig Tarifverträge vereinbaren können, in denen die Eckpunkte für betriebliche Arbeitszeitkonten-Regelungen festgelegt sind. Das Ganze ist vorher an Ihrer, sprich an der Arbeitgeberseite, gescheitert! In vielen anderen Tarifgebieten ist das nach wie vor der Fall. Ich kann diese Haltung mancher Arbeitgeber-Verbände nicht nachvollziehen.
Das Parlament: Die Einführung der 35-Stunden-Woche im Osten ist misslungen - und viele Beobachter hatten den Eindruck, die IG Metall habe die Arbeiter in einen Streik gedrängt, den sie selbst nicht wollten.
Berthold Huber: Die Einführung der 35-Stunden-Woche ist in der Metall- und Elektroindustrie im Osten 2003 gescheitert. Bei Stahl haben wir den Einstieg in die 35 ja geregelt. Die Gründe für unsere damalige Streik-Niederlage sind vielschichtig. Die entsprechenden Mehrheiten in der Urabstimmung unter den Mitgliedern hatten wir allerdings, sonst hätten wir gar nicht streiken dürfen. Insofern stimmt ihr Vorwurf nicht, wir hätten irgend jemanden gedrängt. Aber mich bewegt etwas ganz anderes als eine fruchtlose Rückschau auf 2003. Ich glaube, die Gewerkschaften sind offenbar die Letzten, die das Versprechen auf gleichwertige Lebensverhältnisse für die Menschen im Osten wirklich Ernst meinen. Wir werden dieses Ziel auf keinen Fall aufgeben. Über die Frage, wie und in welchen Zeiträumen man das verwirklichen kann, muss offensichtlich noch einmal nachgedacht werden.
Hans-Olaf Henkel: Wir haben Fehler gemacht. Ein besonders großer hängt mit dem zusammen, was Herr Huber sagte. Es war ein Fehler von Gesamtmetall, sich mit der IG Metall auf diesen Stufentarif zu einigen, denn die Gleichheit der Lebensverhältnisse ist ein schönes Ziel…
Berthold Huber: Die Gleichheit? Die Gleichwertigkeit!
Hans-Olaf Henkel: Also die Gleichwertigkeit. Sie ist ein schönes Ziel, aber wenn in der Verfolgung des Ziels immer mehr Arbeitslose produziert werden, geht das zu Lasten des Wohlstands - und zwar für alle. Ich war im Verwaltungsrat der Treuhand, und wir haben uns damals wegen des Stufentarifs an den Kopf gefasst. Übrigens, die Erfahrung im Osten hat auch für mich die Folge gehabt, meine eigene Position regelmäßig in Zweifel zu ziehen. Wir sind zum Beispiel nie auf die Idee gekommen sind, dass der Ostblock als Kunde für die DDR-Waren so schnell ausfallen könnte. Das haben wir im Überschwang übersehen. Heute ist jedem klar, dass es so kommen musste. Genauso klar sollte inzwischen sein, dass die deutsche Arbeitskraft in der Welt zu ihren derzeitigen Kosten nicht mehr nachgefragt wird.
Berthold Huber: So stimmt das ja nicht, sonst stünde unsere Exportwirtschaft nicht so stark da. Ich glaube, dass wir vor allem in zwei Punkten Anstrengungen unternehmen müssen. Wir müssen erstens in Qualitätsfragen noch besser werden. Es gibt in letzter Zeit einige Beispiele, die mich beunruhigen. Das Zweite ist: Wir stehen in der Frage der Beschäftigungsquote der Industrien an der Spitze von allen OECD-Staaten. Wir haben aber in der Infrastruktur und bei Dienstleistungen deutliche Defizite - von Bildung bis Gesundheit. Aber damit Sie nicht nur Skepsis verbreiten, Herr Henkel, wo sehen Sie denn die Möglichkeit, qualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland zu generieren?
Hans-Olaf Henkel: Darauf kann man eine volkswirtschaftliche Antwort geben oder eine Antwort aus der Sicht eines Unternehmers. Volkswirtschaftlich ist das relativ einfach. Die Ware Arbeit ist in Deutschland zu teuer, nicht nur durch Lohn- und Lohnnebenkosten, sondern auch durch die Arbeitszeiten. Wenn eine Ware zu teuer ist, wird sie nicht nachgefragt. Betriebswirtschaftlich darf man sich aber auch nicht darüber wundern, dass selbst ein so hoch gelobtes Unternehmen wie Porsche - das ist ja zurzeit der Liebling aller Parteiführer, weil auch weil der Vorsitzende sich so positiv zu den deutschen Standortbedingungen äußert - sein neuestes Produkt, den Cayenne, zu über 80 Prozent im Ausland herstellen lassen muss. Das gilt auch für die Binnenkonjunktur. Nehmen Sie einmal den tariflichen Entsende-Mindestlohn im Baugewerbe, der bei zwölf Euro plus liegt. Das sind schon drei Viertel des Tariflohns. Bei dieser Höhe kommt es natürlich dazu, dass wir in Deutschland inzwischen, was die Schwarzarbeit betrifft, Italien sogar übertroffen haben. Vor zehn Jahren haben wir uns noch über die italienische Wirtschaft mit deutscher Arroganz lustig gemacht. Inzwischen haben wir mehr als italienische Verhältnisse. Die Schwarzarbeit hat inzwischen das gleiche Volumen wie das, welches der fiktiven Arbeit aller Arbeitslosen entspricht. Glauben Sie, dass das nur ein Zufall ist? Die Arbeit wird geleistet - aber schwarz, weil sie nicht mehr bezahlbar ist. Das Einstellen einer Putzfrau wurde für mich zu einem kafkaesken Erlebnis! Zwar kamen recht viele Bewerberinnen. Doch als sie hörten, dass das bei mir nur offiziell und auf angemeldeter Basis ginge, winkten sie ab und wollten die Stelle nicht mehr. Als ich schließlich doch eine Putzfrau fand, die bereit war, auf angemeldeter Basis zu arbeiten, ging es erst richtig los. Ich musste sie anmelden. Man verlangte eine Betriebsnummer von mir. Ich antwortete, ich hätte keinen Betrieb und daher auch keine Nummer, ich wäre allein und bräuchte dringend eine Putzfrau. Ich habe letzten Endes eine Putzfrau gefunden - allerdings keine Deutsche, sondern eine Polin. Auch sie musste erst einige Behördengänge hinter sich bringen, bevor sie den Besen schwingen durfte. Was ich sagen will: Wir müssen auch die Arbeit, die von nicht so qualifizierten Leuten gemacht werden kann, nicht nur wieder erschwinglich machen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass es sich für die Beschäftigten selbst wieder lohnt, diese auch offiziell und unbürokratisch zu verrichten. Deshalb ist alles das, was die Arbeitskosten senkt und den Beschäftigten netto mehr in den Taschen lässt, nützlich, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Berthold Huber: Das ist doch Schnee von gestern. Ich selber habe auch eine Haushaltshilfe, die bei mir putzt. Die melde ich an und zahle 20 Prozent drauf. Ich kann Sie beruhigen: Der Bürokratieaufwand hält sich inzwischen in Grenzen. Was Sie beschreiben, ist auch nicht das zentrale Problem. Wir leiden im Moment unter einem Binnenmarkt, der stagniert. Das Problem liegt nicht in der Exportwirtschaft, die steht gut da. Nein, die Menschen in Deutschland geben zu wenig aus. Wir können den Binnenmarkt erstens über angemessene Lohn- und Gehaltserhöhungen ankurbeln. Die Leute brauchen ja schließlich Geld, wir leben in einem Massenmarkt! Autos kaufen keine Autos. Und wenn die Leute kein Geld haben, wenn sie Angst um ihren Arbeitsplatz und ihre Zukunft haben, wie soll da wirtschaftliches Wachstum entstehen? Der zweite wichtige Punkt ist folgender: Der "Faktor Arbeit" muss endlich entlastet werden. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind die "Lastesel" des gesamten Sozialsystems. Oder anders formuliert: das Portemonnaie, aus dem Helmut Kohl die deutsch-deutsche Einigung bezahlt hat. Die Beschäftigten zahlen mit den Sozialabgaben vereinigungsbedingte Transferleistungen, nicht alle Bürgerinnen und Bürger. Das muss dringend korrigiert werden.
Hans-Olaf Henkel: Den Punkt der hohen Lohnnebenkosten sprechen Sie zu Recht an. Auch hierfür mache ich nicht allein die Politik oder die Gewerkschaften verantwortlich. Wir alle wissen, dass über die Hälfte der Lohnnebenkosten eben auch tariflich festgelegt sind. Die Arbeitgeber haben nicht nur eine Verantwortung für die Arbeitszeitreduzierung, die sehr viele Arbeitsplätze gekostet hat, und die Lohnhöhe - sondern sie tragen auch Verantwortung für die Höhe der Lohnnebenkosten. Auch in diesem Zusammenhang muss man an das Tarifkartell erinnern. Schließlich zur Binnennachfrage. Herr Huber hat völlig Recht. Nur können wir das nicht so ohne weiteres von den Strukturen im Land trennen. Die Binnennachfrage ist eben nicht nur ein konjunkturelles Problem, sie ist auch ein strukturelles Problem. Die Idee, die so zwei, drei von den Dutzenden der bekannten Wirtschaftswissenschaftler haben, dass wir sozusagen durch weitere starke Lohnerhöhungen oder gar weitere Verschuldungen aus dieser Misere herauskommen können, hat sich überall in der Welt als falsch herausgestellt. Es gibt eine eindeutige Korrelation zwischen Ländern, die ausgeglichene Haushalte haben und vernünftige Lohnentwicklungen hatten - und denen, die heute eine niedrige Arbeitslosenrate haben. Das Entsprechende gilt für die Höhe der Unternehmenssteuern. In Schweden beträgt der maximale Steuersatz für ein Unternehmen 28 Prozent. Den schwedischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften ist völlig klar, dass ein niedriger Steuersatz von Unternehmen auch gut für die Beschäftigung ist. Die Besteuerung reicher Leute ist in Schweden viel höher als bei uns. Bei uns werden grundsätzlich von Gewerkschaften und Sozialpolitikern die Unternehmen in einen Topf geschmissen. Es ist immerhin jetzt durchgesickert, dass nicht nur die prozentuale, sondern auch die tatsächliche Steuerbelastung auf Unternehmen bei uns viel höher ist als in den meisten Nachbarländern. Wir müssen endlich einmal begreifen, dass Steuern auf Unternehmen auch Steuern auf Arbeitsplätze sind. Ich habe mich als BDI-Präsident nie für eine Steuersenkung für reiche Leute stark gemacht - aber immer schon für eine Steuersenkung für Unternehmen.
Berthold Huber: Auf den absurden Vorwurf, der Großteil der Lohnnebenkosten entstünde durch Tarifverträge, gehe ich nicht ein. Das ist wieder so eine polemische Milchmädchen-Rechnung von Ihnen, die auch auf der Arbeitgeberseite überwiegend nicht geteilt wird. Ulrich Brocker, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes der Metall und Elektroindustrie, hat Ihnen jüngst in einem Artikel erneut vorgerechnet, dass Sie hier irren. Aber Sie sind offensichtlich unbelehrbar. Ich stimme Ihnen insoweit zu, dass wir die Frage des Spitzensteuersatzes für reiche Leute neu diskutieren müssen, der im übrigen woanders - Beispiel Schweden - viel höher ist. Dann könnte die Unternehmensteuer entlastet werden, ohne dass der Staatshaushalt weiter unter Druck kommt.
Hans-Olaf Henkel: Da ist etwas dran. Man muss natürlich auch bedenken, dass auch ein Spitzensteuersatz für reiche Leute volkswirtschaftliche Probleme insbesondere für den Finanzminister bringt. Die Anzahl der Schweden, die inzwischen in der Schweiz oder in anderen steuergünstigen Ländern leben, steigt ja beständig.
Das Parlament: Müsste man nicht in Ihrer Logik, Unternehmern und Unternehmen unterschiedliche Steuern aufzuerlegen, auch die Besserverdienenden in die sozialen Sicherungssysteme einzubeziehen? Dabei wird ja die Idee der Bürgerversicherung diskutiert.
Hans-Olaf Henkel: Ja, Unternehmenserträge und private Einkommen unterschiedlich zu besteuern, halte ich für richtig. Eine Bürgerversicherung dagegen überhaupt nicht. Das ist für mich wieder so ein typisch deutsches Wundermittel, das zwar gut aussieht, auf das es aber nicht ankommt - so wie der Mindestlohn, der als tolle Wunderwaffe gegen die Arbeitslosigkeit herhalten soll. Zusätzliche Einzahler in eine staatliche Versicherung bringen ja auch zusätzliche Ansprüche. Aber eine Reform des Systems ist damit nicht verbunden. Die Bürgerversicherung geht völlig vorbei an dem, was wir in Deutschland brauchen. Das Gesundheitssystem in Deutschland ist auch deshalb total verlottert, weil wir zu wenig Wettbewerb haben. Wir brauchen Wettbewerb zwischen Krankenkassen, Ärzten, Kliniken. Aber auch zwischen Apotheken. Ich kenne kein Land, wo in vielen Städten alle paar hundert Meter eine Apotheke steht. Wir haben fast mehr Apotheken als Milch-, Brot- und Fleischerläden zusammen. Wie unser Gesundheitssystem wieder wettbewerbsfähig wird? Durch Wettbewerb!
Berthold Huber: Mit Herrn Henkels Apotheken-Beispiel bin ich sehr einverstanden, aber das ist auch der einzige Punkt an dieser Stelle. Wir haben sicherlich im Gesundheitswesen große Effizienzspielräume. Die ganze Frage, auch der Prävention, wird aus meiner Sicht zu wenig angepackt. Die Bürgerversicherung würde daneben sehr wohl notwendige Vorteile bieten. Wir können doch nicht alle großen Risiken - wie die Langzeitkranken und Arbeitslosen - den gesetzlichen Kassen aufbürden und uns dann beklagen, dass sie nicht mit den privaten Krankenversicherungen konkurrieren können. Dort hat die Klientel ein höheres Einkommen und Risiken, die deutlich geringer sind. Diese falsche Verteilung frisst den Gedanken an so etwas wie Solidargemeinschaft in unserem Lande allmählich auf. Die Kernfrage ist: Wollen wir ein Land, wo wir auch in der Gesundheitsfrage eine Zwei-Klassen-Gesellschaft haben oder eine Drei-Klassen-Gesellschaft, oder wollen wir das nicht? Ich will das nicht. Diese Ungleichheit will die Bürgerversicherung zumindest teilweise korrigieren. Erstens zahlen alle ein, auch Selbstständige, Beamte und Freiberufler. Zweitens werden nicht nur die Arbeitseinkommen herangezogen. Ich erinnere an den Begriff "Lastesel", den ich vorhin erwähnt habe. Es werden endlich auch die Kapitaleinkünfte herangezogen. Für die Finanzierung der Sozialsysteme werden sie bislang nicht berücksichtigt. Und um sein Häuschen braucht sich niemand Sorgen machen. Es gibt so hohe Freibeträge, dass nur die wirklich großen Einkommen herangezogen werden.
Das Parlament: Trotz ihrer negativen Beschreibung des geltenden Krankenversicherungssystems wehren Sie sich insgesamt gegen zu viel Pessimismus...
Berthold Huber: Absolut. Es gibt auch positive Entwicklungen. Wir können nicht erwarten, und es wäre auch falsch, dass jeder neue Arbeitsplatz hier in Deutschland entsteht. Audi beispielsweise ist ein Unternehmen, das seine Wertschöpfung auch aus dem außerdeutschen Raum generiert. Aufgrund der guten Modelle und der qualitativ hochwertigen Arbeit hat Audi aber nicht nur den Beschäftigungsstand gehalten, sondern in den vergangenen zehn Jahren massiv zugelegt - innerhalb und außerhalb Deutschlands. Das ist nur ein Beispiel für die Entwicklung der deutschen Autoindustrie. Wir hatten den höchsten Stand der Beschäftigung 1992 mit 802.000 Beschäftigten. Dann ging es rapide abwärts auf 640.000 Beschäftigte im Jahre 1995, und seit 1997 ist es langsam wieder nach oben gegangen. Nach den aktuellsten Zahlen lagen wir 2003 bei 776.000 Beschäftigten in dieser Industrie. Deutschland ist also in dem Bereich nicht der Verlierer gewesen, sondern Gewinner! Das sollten wir nicht kaputt reden. Was ist noch gleichzeitig passiert? Wir haben einen Strukturwandel der Beschäftigten. Wir haben immer mehr besser ausgebildete und hoch qualifizierte Jobs. An der Stelle sind wir bis dato Gewinner. Ich will dennoch nicht bestreiten, dass wir ein Problem haben mit sogenannter "einfacher Arbeit".
Hans-Olaf Henkel: Auch das hängt mit der Lohnentwicklung zusammen. Wenn Sie die deutsche Industrie einmal mit der britischen vergleichen, auch noch mit der amerikanischen und der französischen, schneidet unsere immer noch besser ab. Unsere Fabriken sind automatisierter, ab und zu werden wir noch von den Japanern übertroffen. Aber in Japan werden eben auch noch die Schuhe im Hotel von Hand geputzt, und die Schuhputzer können sich im Hotelfach nach oben arbeiten. Bei uns stehen Automaten in den Hotels, die potentiellen Beschäftigten sitzen als Arbeitslose den ganzen Tag vor der Glotze oder streichen um die Häuserblocks. Um den Kunden zu dienen, stehen in Japan oft junge Leute vor den Hotelfahrstühlen und drücken für den Gast den Knopf. Absurd? Ich meine nicht, denn es ist möglicherweise der Beginn einer erfüllenden Karriere. Bei uns dagegen haben immer mehr junge Arbeitslose keine oder nur eine schlechte Berufsperspektive. Nehmen Sie das Beispiel unserer Tankstellen: Kaum ein Tankwart, wenn es den Beruf überhaupt noch gibt, putzt ihnen die Scheiben.
Berthold Huber: Ich bitte Sie, Scheibenwischen wird Ihnen in deutschen Großstädten an fast jeder Kreuzung angeboten. Das löst unser Problem ebenso wenig wie Ihr wirklich absurder Verweis auf den Job am Aufzug. Was ist denn daran bitte positiv? Die Frage ist: Wo können Arbeitsplätze entstehen, die diesen Namen auch verdienen? Ich glaube, dass sie zum Beispiel in der Betreuung von Kindern entstehen können. Dort haben andere Länder, auch das von Ihnen genannte Schweden, signifikant mehr Menschen beschäftigt. Gerade im Bereich der Pflege können Arbeitsplätze entstehen und werden es in Zukunft auch. Die Frage ist nur, wie wir das finanzieren. Ich möchte noch auf den Mindestlohn eingehen, den Sie vorher als ein Hemmnis bezeichnet haben: Wir haben doch längst in Deutschland für viele Millionen einen Niedriglohn-Sektor, der um fünf Euro liegt. Wir haben Tarifverträge - Sie haben sich den höchsten herausgesucht, im Baugewerbe. Da gibt es einen Leiharbeitstarifvertrag, der liegt bei genau sieben Euro. Ich sage Ihnen jetzt meine Meinung: Da sind wir schon an der untersten Grenze, weil die Leute doch einigermaßen über die Runden kommen müssen. Das ist doch auch unsere Vorstellung von Menschenwürde.
Hans-Olaf Henkel: Bei uns gibt es zu viele Missverständnisse über wirtschaftspolitische Zusammenhänge, die ausgeräumt werden müssen. Es muss ein Unterschied gemacht werden zwischen der Besteuerung von Unternehmen und Privateinkünften. Das wissen die meisten Politiker, aber sie ignorieren es oft, weil man mit dem Hinweis auf Unternehmen so herrlich Klassenkampf nach altem Muster machen kann. Ich nenne nur das Beispiel Heuschrecken. Ein weiteres Missverständnis herrscht über die Ertragskraft der deutschen Wirtschaft. Ich habe mich öfter mit Vertretern aller Fraktionen im Bundestag zum Dialog getroffen. Dabei stelle ich oft die Frage nach der Netto-Durchschnittsrendite - also nach dem, was von 100 Euro Umsatz nach Abzug aller Kosten, Steuern und Abgaben übrig bleibt. Die Antworten habe ich nicht gewichtet, aber wenn ich das einmal so zusammentragen darf, dann schätzen die Damen und Herren die Zahl in der Gegend um zwölf bis fünfzehn Prozent. Tatsache ist: Es sind in den letzten zehn Jahren um die zwei Prozent gewesen. Diese Zahl ist wichtig für die derzeitige Diskussion in Deutschland, denn sie lag vor 20 Jahren bei 3,5 Prozent - und, was noch wichtiger ist, sie liegt in fast allen anderen OECD Ländern weit darüber. Wenn wir uns fragen, warum die Deutschen Unternehmen nicht genug hier, aber immer mehr im Ausland investieren, warum die Ausländer nicht mehr so gern in deutsche Arbeitsplätze investieren, warum die Eigenkapitalausstattung des Mittelstandes ein historisches Tief erreicht hat, warum wir einen Pleiterekord nach dem anderen feiern müssen, warum es relativ wenig Unternehmensgründer bei uns gibt, warum wir auf fünf Millionen Arbeitslosen sitzen, dann ist die Antwort ganz einfach: Die Unternehmen, die in Deutschland tätig sind, verdienen am Standort nicht etwa zu viel, sondern viel zu wenig. Je eher die Mitglieder des Parlaments begreifen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Fähigkeit zu verdienen und der Bereitschaft, Arbeitsplätze zu schaffen, desto schneller werden sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen für neue Arbeitsplätze verbessern.
Das Parlament: Das sehen Sie sicher anders, Herr Huber?
Berthold Huber: Wir erleben im Moment eine andere Realität. Bundesweit gibt es allein im Organisationsbereich der IG Metall mindestens zehn Standorte, wo zweistellige Renditen erzielt werden, es den Konzernzentralen aber immer noch nicht reicht. Die Betriebe sind kerngesund, sollen aber trotzdem geschlossen werden! Dieses Diktat der Anteilseigner, der sogenannte Shareholder-Kapitalismus, zerstört das System der sozialen Marktwirtschaft. Der Shareholder-Kapitalismus ist keine Naturkatastrophe, die über uns hereinbricht und der wir uns ergeben müssen. Ich denke, wir müssen daran arbeiten, wie wir diese bedrohlichen Fehlentwicklungen korrigieren können. Ich gebe zu, dass wir Gewerkschaften dafür noch viel konzeptionell arbeiten müssen. Aber von Ihnen höre ich gar nichts, Herr Henkel, außer "Friss oder stirb", beziehungsweise arbeitet alle länger und für weniger Geld, dann kommt der Aufschwung von allein. Beides sind keine geeigneten Antworten auf die heutigen Fragen.
Das Gespräch führten Susanne Kailitz und Norbert
Mappes-Niedik.