Tarifautonomie ist ein freiheitliches Konzept. Die Beteiligten des Arbeitslebens, also Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sollen ihre Angelegenheiten selbst ordnen, indem sie verhandlungsfähige Verbände bilden, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die dann in Tarifverträgen die maßgebenden Regeln schaffen. Auf diese Weise soll ihr konfliktträchtiger Interessengegensatz ausgeglichen werden. Die Regeln, die Tarifvertragsparteien für ihren Zuständigkeitsbereich aushandeln, sind für alle Verbandsmitglieder verbindlich und können auch über den Mitgliederkreis hinaus als Richtschnur dienen.
Dieses Konzept ist nicht etwa die Erfindung eines weit schauenden Staatsmannes. Es war zunächst eine Notlösung. Die ökonomischen und politischen Umwälzungen der "industriellen Revolution" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die neue Klasse der Industriearbeiterschaft entstehen lassen, auf deren Ausbeutung und Not der Staat keine Antwort kannte. Das führte zu sozialen Explosionen: Lange, verbissene, zum Teil sogar blutige Arbeitskämpfe, verbunden mit bitterer Not und wirtschaftlichen Zusammenbrüchen. Die Wortführer der jeweiligen Gruppen, die Gewerkschaften und die Unternehmen, sahen sich schließlich zu der Einsicht gezwungen, dass sie die Konflikte mit ihren eigenen Methoden lösen und sozial befriedende Formen des Ausgleichs finden müssen. Mit kollektiven Verträgen regelten sie die Arbeitsbedingungen, zwar räumlich und zeitlich begrenzt, aber für ihre Mitglieder verbindlich und verbunden mit wechselseitiger Friedenspflicht.
Dieses Modell erwies sich als so plausibel und leis-tungsfähig, dass es sich mit Variationen in allen westlichen Industrienationen durchsetzte, zunächst ohne rechtliche Grundlage. Schnell wurde es zum Kennzeichen freiheitlicher Gesellschaftsordnung und sozialer Rechtsstaatlichkeit.
Natürlich haben es die Nationalsozialisten sofort abgeschafft. Ebenso konsequent aber wurde es nach 1945 wieder eingeführt. Mit dem Tarifvertragsgesetz erhielt es schon 1949 eine gesetzliche Grundlage, die bis heute maßgebend geblieben ist.
Das Grundgesetz hat das vorstehend beschriebene Schutzkonzept grundrechtlich abgesichert. Artikel 9 Abs. 3 formuliert allerdings nur die Freiheit, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden". Das Bundesverfassungsgericht hat aber von Anfang an klargestellt, dass damit zugleich das gesamte Ausgleichsverfahren "kollektiver Privatautonomie" gewährleistet werden soll. Koalitionsfreiheit ist ja nur in Verbindung mit der Tarifautonomie effektiv und sinnvoll. Dazu gehören dann allerdings auch tarifbezogene Arbeitskämpfe, die die erforderliche Verhandlungsbereitschaft der Gegenseite erzwingen wollen. Absprachen oder Maßnahmen, die diese Freiheiten einschränken oder behindern, sind nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 rechtswidrig.
Aber nicht nur die sozialen Gegenspieler sind als Akteure eingebunden, auch der Staat selbst wird verpflichtet, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen muss er die Voraussetzungen schaffen, von denen die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie abhängt. Zum anderen muss er den Gestaltungsfreiraum der Tarifvertragsparteien respektieren. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt darauf hingewiesen, dass der Staat nicht untätig bleiben und einfach zusehen darf, wenn "strukturell ungleiche Verhandlungsstärke" in der Vertragspraxis dazu führt, dass ein Vertragspartner dem Kontrahenten seinen Willen aufzwingen und sein Übergewicht in unfairer Weise ausnutzen kann. Genau das ist aber das Grundproblem des Arbeitsrechts. Die internationale Sozialgeschichte hat zu der Erkenntnis geführt, dass Arbeitsverträge fairen Interessenausgleich nicht gewährleisten können. Hier hilft die Tarifautonomie als bewährtes und staatsentlastendes Ausgleichsverfahren für die typische Schieflage des Arbeitsmarktes. Gesetzgebung und Rechtsprechung können und dürfen weitgehend darauf vertrauen, dass die Tarifvertragsparteien angemessene Lösungen finden. Davon gehen sogar die Arbeitgeber bei ihrer Vertragspraxis aus; es ist üblich, dass Unternehmen, die gar nicht tarifgebunden sind, tarifliche Regelungen ohne Rücksicht auf die Gewerkschaftszugehörigkeit ihrer Arbeitnehmer anwenden. Niemand zwingt sie dazu, es hat sich aber als sinnvoll und praktikabel bewährt. Tarifautonomie und Vertragsfreiheit sind also rechtlich und wirtschaftlich eng miteinander verbunden.
Die Funktionsfähigkeit des kollektiven Vertragsrechts ist allerdings an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die der Staat durch Gesetzgebung und Rechtsprechung nur teilweise schaffen kann. Die Grenze seiner Möglichkeiten ist zugleich die Grenze seiner verfassungsrechtlichen Pflichten. Immerhin hat er dafür zu sorgen, dass Tarifverhandlungen nicht durch einseitige Interessen blockiert werden können. Und es muss gesichert sein, dass die tarifvertraglichen Regelungen sich in der Praxis des Arbeitslebens tatsächlich durchsetzen lassen. Deshalb haben Tarifverträge normative Wirkung, gestützt und ergänzt durch effizienten Rechtsschutz. Diese rechtliche Absicherung ist verfassungsrechtlich geboten und stellt den Verbänden des Arbeitslebens ein funktionsfähiges Instrument zur Verfügung. Wirksam im Sinne der verfassungsrechtlichen Erwartungen wird dieses Instrument aber nur, wenn es auch genutzt wird. Das setzt durchsetzungsstarke und kompromissfähige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände voraus. Und hier zeigen sich Krisensymptome. Beide sozialen Gegenspieler leiden unter starkem Mitgliederverlust als Reaktion auf wesentlich veränderte Interessenlagen. Der globale Wettbewerb und ein rasanter Wandel der Arbeitswelt stellen das Konzept solidarischer Interessenbündelung und kollektiver Vertretung vor ganz neue und komplizierte Probleme.
Wie können also die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie verbessert werden? Tatsächlich werden Reformvorschläge heftig diskutiert, diese gehen aber in die genau entgegengesetzte Richtung: Neoliberalen und marktradikalen Politikern und Ökonomen erscheint das ganze Tarifvertragsrecht als marktfeindliches Kartell, das abgeschafft, oder wenigstens zurück- gedrängt werden sollte. Im schnellen Wechsel der aktuellen Probleme könnten die einzelnen Arbeitgeber und Arbeitnehmer selbst besser beurteilen, was für sie richtig und wichtig ist, als betriebsferne Verbände. Besonders deutlich werde das dann, wenn Betriebe ganz oder teilweise stillgelegt oder verlagert werden müss-ten, um die Kosten zu senken und die Wettbewerbslage des Unternehmens auf diese Weise zu verbessern. Hier würden die betroffenen Arbeitnehmer lieber auf tarifliche Rechte verzichten als ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Diese Lösung werde aber durch das starre Tarifrecht verhindert. Der Tarifvertrag erweise sich als unsinnige Fessel und führe zwangsläufig zu beschäftigungspolitischer Fehlsteuerung.
Diese Kritik verkennt jedoch schon in ihrem Ansatz die Grundlagen und die freiheitliche Konzeption der Tarifautonomie. Und sie zeichnet ein Zerrbild des geltenden Rechts. Tarifverträge unterscheiden sich von Kartellen dadurch, dass sie marktgerechtes Verhalten nicht durch künstliche Übermacht verhindern, sondern umgekehrt dazu dienen, die strukturell ungleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen. Damit ermöglichen sie marktgerechtes Verhalten überhaupt erst. Das freiheitliche Konzept der kollektiven Privatautonomie will Marktmissbrauch und Zwang ausschließen. Niemand wird gegen seinen Willen tariflichen Normen unterworfen; Arbeitgeber und Arbeitnehmer können frei entscheiden, ob sie einem tariffähigen Verband beitreten und sich dessen Sachkunde und Verhandlungsstärke anvertrauen wollen. Damit stehen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gleichermaßen unter dem Druck, ihre Tarifpolitik vermitteln und ihre Leistungsfähigkeit beweisen zu müssen. Sonst verlieren sie Mitglieder und gewinnen keine neuen.
Ebenso irreführend ist die Beschreibung des geltenden Tarifrechts als starres und betriebsfernes System. Fast die Hälfte aller geltenden Tarifverträge sind Firmentarifverträge, die einzelne Unternehmen mit den zuständigen Gewerkschaften abgeschlossen haben. Sie können alle betriebliche Besonderheiten erfassen. Soweit ihre Regelungen von gleichzeitig geltenden Verbandstarifverträgen abweichen, haben sie Vorrang. Das gilt sogar für Regelungen, die mit dem Betriebsrat geschlossen wurden, wenn die Tarifpartner das zulassen. Solche "betrieblichen Bündnisse" sind bereits so verbreitet, dass Zweifel an der Steuerungskraft des Tarifsystems laut werden.
Was die Flexibilität des Tarifvertragsrechts anbelangt, so lässt das geltende Tarifvertragsgesetz keine Wünsche offen. Ohnehin werden Tarifverträge regelmäßig nur auf Zeit abgeschlossen. Darüber hinaus sind aber die unterschiedlichsten Öffnungsklauseln möglich und weitgehend üblich; sie sollen den Unternehmen die Reaktion auf unvorhergesehene Probleme möglich machen.
Voraussetzung dieser differenzierenden und flexibilisierenden Formen tariflicher Gestaltung ist allerdings die Übereinstimmung der sozialen Gegenspieler, also der Gewerkschaften auf der einen und der Arbeitgeber auf der anderen Seite. Tarifautonomie verlangt darüber hinaus, dass sich die kollektive Regelung gegenüber den Einzelinteressen der Verbandsmitglieder durchsetzen kann.
Wäre es anders, würden Tarifverträge zu unverbindlichen Richtlinien und damit auch der Beitritt zu tariffähigen Verbänden sinnlos - zumindest für die Arbeitnehmer. Das ganze Konzept der Tarifautonomie verlöre sein Fundament. Das wäre mit Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes unvereinbar.
Prof. Dr. Thomas Dieterich ist Präsident des
Bundesarbeitsgerichts a. D.