Der beste Betriebsrat ist der Chef", hieß es einst in den jungen Firmen der Informationswirtschaft. Ein kostenloses Mittagessen und das Taxi, wenn es mal richtig spät wurde, schienen als betriebliche Sozialleistung zu reichen. Die Gründer bemühten sich um ein entspanntes Arbeitsklima - auch wenn der eigens für die durch Dauer-Bildschirmarbeit gepiesackten Nacken engagierte Masseur stets ein Klischee war. Zum Kern eines anderen Selbstverständnisses avancierte das "Commitment", die Verpflichtung auf eine gemeinsame Mission. Interessenkonflikte sollten gar nicht erst aufkommen, mögliche Streitpunkte schnell geklärt werden. Die formalen Regularien herkömmlicher Betriebsratsarbeit schienen überflüssig. Der Betriebsrat mutierte zum "Round table".
Viele dieser runden Tische formierten sich mit ausdrücklicher Unterstützung des Managements. In der großen Ernüchterung nach dem Börsenkrach entpuppten sie sich als Schönwetter-Einrichtungen. Bei Betriebsschließungen und Entlassungen klopften verunsicherte Mitarbeiter plötzlich bei der bis dahin ignorierten Gewerkschaft an. Der Beratungsbedarf war groß, Vorzeigeunternehmen wie Pixelpark bekamen mit Verspätung doch noch einen offiziellen Betriebsrat. Nach wie vor aber tun sich die Arbeitnehmerorganisationen schwer in der IT-Branche. Das gilt auch für ihr Pendant, die Arbeitgeberverbände. Von einer "verbandlichen Ordnung" könne in diesem Bereich kaum gesprochen werden, sagt Raphael Menez, Politikwissenschaftler an der Universität Tübingen. Gewerkschaftliche Erfolge blieben "auf große Unternehmen mit einer Tradition institutionalisierter Arbeitsbeziehungen beschränkt", resümiert Menez ein im März beendetes zweijähriges Forschungsprojekt. Wo nicht auf vorhandene Strukturen zurückgegriffen werden konnte, "gelang es den Gewerkschaften trotz der Krise nur selten, tarifvertragliche Standards zu implementieren".
Die Mitbestimmungsmöglichkeiten hängen Menez zufolge "entscheidend von der Organisationsmacht der Interessenverbände" ab. Auf Arbeitgeberseite ist diese besonders schwach ausgeprägt. Gudrun Trautwein-Kalms ermittelte Ende 2000 in einer Befragung für die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung, dass nur jedes dritte Unternehmen, das über einen Betriebsrat verfügt, auch an einen Verbandstarif angeschlossen ist (sonstige Privatwirtschaft: 77 Prozent). Peter Ittermann von der Ruhr-Universität Bochum kam unter den 2002 am Neuen Markt notierten Unternehmen auf deutlich niedrigere Zahlen: Nur 19 Prozent der befragten Firmen waren Mitglied in einem Arbeitgeberverband, lediglich sieben Prozent unterlagen einer Tarifbindung. Firmen- oder Haustarifverträge überwiegen in den wenigen Großunternehmen wie etwa IBM, die Kleinbetriebe hingegen sind kaum organisiert. "Ein zentrales Motiv zum Verbandsbeitritt liegt nach Einschätzung der Gesprächspartner dann vor, wenn Gewerkschaften im entsprechenden Unternehmen einen Druck auf Belegschaft und Geschäftsführung aufbauen", heißt es in der Tübinger Studie. Diesen Druck aber können ver.di oder IG Metall nur in Ausnahmefällen entfalten. Zwar gilt die einst idealisierte informelle Mitsprache nicht mehr als wegweisendes Modell, die Schwächen der selbst organisierten Gremien waren in der Krise nicht zu übersehen.
Helmut Martens von der Sozialforschungsstelle Dortmund hat den Stimmungswandel in seinen Befragungen mitverfolgt. "Wir sind älter geworden", bekam er bei Recherchen in IT-Betrieben immer wieder zu hören. Die einstigen Pioniere sind in die Jahre gekommen. Nicht nur die wirtschaftlichen Bedingungen, auch die Lebenssituation der Protagonisten hat sich verändert. Mehr berufliche Sicherheit ist deshalb erwünscht, gewerkschaftliche Organisierung jedoch auch nach dem Ende des Aktienbooms alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Der "Schub von Betriebsratsgründungen in 2001" ist für Martens nicht ohne Vorgeschichte denkbar. Der Dortmunder Forscher verweist auf das von ver.di unterstützte Experiment "connexx.av": Die Erfolge dieses Beratungsangebotes führt er darauf zurück, dass die "Projektmanager aus der eigenen Klientel" stammen und ihnen "jeder gewerkschaftliche Stallgeruch fehlt". Die hauptamtlichen "connexx"-Aktivisten, die vorher meist in Startups oder Privatsendern gearbeitet haben, sind selbst Teil eines eher "gewerkschaftsfernen" kulturellen Milieus. Entsprechend hat "connexx.av" zwar viel für ein besseres Image des DGB und seiner Organisationen getan, die Statistik über neue Mitglieder aber fällt bescheiden aus: Etwa 1.800 Eintritte hat ver.di in drei Jahren verzeichnet.
Auch im so genannten "Siemensprojekt", wo die IG Metall nach der Auseinandersetzung um Massenentlassungen im Münchner Stammwerk rund 900 neue Mitglieder gewann, habe man nicht bei Null begonnen, betont Martens. Die IT-Sparte des Konzerns sei "aus der Old Economy" hervorgegangen und war schon während der 90er-Jahre in Prozesse zur Organisationsentwicklung der IG Metall einbezogen. Als Gründe, warum sie freiwillig Mitglied in einem Arbeitgeberverband werden, nennen einzelne Firmenchefs die "Friedensfunktion des Tarifvertrages", die es ermögliche, "Konflikte aus dem Betrieb herauszuverlagern". Daneben habe das Tarifrecht auch eine "Orientierungsfunktion", biete ein "Raster" für Vergütungsstrukturen und Arbeitszeiten und senke so die Transaktionskosten der Firmen.
Politikwissenschaftler Menez lässt keinen Zweifel daran, dass es unter den insgesamt 40.000 Software- und IT-Dienstleistern in Deutschland große Widerstände gegen jede Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband gibt. Als Hauptgründe nennen die Interviewten das "Korsett" der 35-Stunden-Woche; das Thema Entgelt spiele vor allem "eine Rolle in Ostdeutschland". Die Untersuchung zitiert den Arbeitgeberfunktionär eines Landesverbands mit vergleichsweise hohem Organisationsgrad: "Wir haben im Vorstand viele alte Hasen. Die haben den Boom der so genannten New Economy äußerst argwöhnisch betrachtet." Als "erfahrene Betriebswirte" seien sie "sehr skeptisch gewesen": Es habe wenig Interesse gegeben, "diese Firmen sofort zu integrieren".
"Die Neigung, sich in Verbänden zu organisieren, ist ungebrochen", glaubt dagegen Peter Klotzki, Sprecher von Gesamtmetall. Er schränkt aber gleich ein, dies bedeute nicht zwangsläufig die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband mit Tarifbindung. In den "neuen Strukturen" der digitalen Wirtschaft überwiege eine gewisse "verbandliche Zurückhaltung". Die jungen Unternehmensgründer seien "nicht damit aufgewachsen" und "Kosten-Argumente" spielten eine wichtige Rolle. In der Tat bilden finanzielle Aspekte ein nicht zu unterschätzendes Argument gegen einen Verbandsbeitritt. "Schon der IHK-Beitrag", also die Zwangsmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer, verursache vielerorts Bauchschmerzen, berichtet Klotzki.
Die Beiträge sind je nach Verband und Region unterschiedlich, im Schnitt betragen sie ein Promille der Lohn- und Gehaltssumme. Vielen Minifirmen erscheint die Belastung aber zu hoch - auch wenn sie, wie Klotzki betont, "im Vergleich zur Unternehmensberaterstunde relativ wenig" ausmache und "wichtige Leistungen etwa im Arbeitsrecht" Teil des angebotenen Servicepaketes seien. "Die sind vielleicht bereit, für einen Club, in dem sie Mitglied sind, im Jahr 200 oder 300 Euro zu zahlen, aber das deckt bei weitem nicht die Kosten eines Verbandes ab", klagt ein im Tübinger Forschungsprojekt befragter Arbeitgebervertreter. Raphael Menez kommentiert: Die "Kostenorientierung" auf Unternehmer- wie auf Belegschaftsseite sei ein wesentliches "Hindernis zur Etablierung einer verbandlichen Ordnung".
Das "Aussterben der Stammkundschaft", wie es Wolfgang Streeck vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung nennt, gilt für beide Tarifparteien. Die IT-Branche organisiert sich bestenfalls in so genannten "OT-Verbänden" - lockeren Zusammenschlüssen ohne Tarifbindung wie dem 1999 gegründeten "Bundesverband für Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien e.V" (Bitkom). Dessen 1.300 Mitglieder erwirtschaften immerhin einen Jahresumsatz von etwa 120 Milliarden Euro und beschäftigen rund 700.000 Mitarbeiter. Trotzdem organisieren sie nur einen Bruchteil des unübersichtlichen Marktes. Mindestens 80 Prozent der sich in der Branche tummelnden Unternehmen, so schätzt "Bitkom", liegen unter 100.000 Euro Umsatz pro Jahr und sind daher eher der Kategorie "Kleinstunternehmen" oder "Solo-Selbstständiger" zuzuordnen.
"In der Ära des Modell Deutschland sind die Tarifparteien wie siamesische Zwillinge aufgetreten, nun agieren sie zunehmend getrennt", resümiert Josef Schmid, an dessen Tübinger Lehrstuhl für Politische Wirtschaftslehre die Arbeitgeber-Untersuchung durchgeführt wurde. Er spricht von "zwei einst gleich starken kommunizierenden Röhren, wobei einer Röhre jetzt immer mehr Druck zugeführt wird". Das neue Ungleichgewicht liege darin, dass Gewerkschaften "nur als Tarifpartei operieren können und die Option OT-Verband für sie entfällt".
Die Unternehmen haben schlicht die größeren Wahlmöglichkeiten: Indem sie den Beitritt zum Arbeitgeberverband vermeiden, unterlaufen sie den Flächentarif. Die Mitgliedschaft in fachorientierten Wirtschaftsverbänden "ohne Tarif" aber, so analysiert Schmid, mache für sie trotzdem Sinn - etwa "bei der gemeinsamen Erkundung von Absatzmärkten, der Errichtung von gemeinsamen Repräsentanzen im Ausland, bei der politischen Lobbyarbeit oder der Einflussnahme auf technische Normierungen". Für die Gewerkschaften ist es so besehen viel bedrohlicher, wenn sich das frühere "komplementäre Verhältnis" der Verbände auflöst. Denn Tarifpolitik und kollektiv regulierter Schutz am Arbeitsplatz bilden heute wie vor 150 Jahren den Kern ihrer Identität - und das gilt auch für die in dieser Hinsicht gar nicht so "Neue Ökonomie".
Thomas Gesterkamp arbeitet als Journalist in Köln. In seinem
Buch "gutesleben.de" hat er sich mit der Unternehmskultur der
IT-Branche beschäftigt.